Urs Tillmanns, 6. November 2011, 07:00 Uhr

Besuch der einst grössten Filmfabrik Europas

Die Industrieanlage in Wolfen-Bitterfeld, etwa 50 Kilometer nördlich von Leipzig, sieht heute ausgehöhlt und leer aus. Nur wenig erinnert daran, dass hier bis 1994 auf einer Fläche von zwei Millionen Quadratmetern die grösste Filmfabrik Europas stand.

 

Die 1873 gegründete «Actien-Gesellschaft für Anilin-Fabrication» (Agfa) kam durch den Farbstoffchemiker Dr. Momme Andresen, der in seiner Freizeit leidenschaftlich fotografierte, dazu, Fotochemikalien herzustellen und lichtempfindliche Platten zu giessen. Ursprünglich in Berlin-Treptow ansässig beschloss die Agfa um die Jahrhundertwende einen neuen Fabrikationsort für ihre fotografischen Platten und Filme zu suchen, weil das Berliner Werk ausdehnungsmässig an seine Grenzen gekommen war. Zudem verursachten die qualmenden Dampflokomotiven der nahen Bahnlinie Berlin – Görlitz zunehmend stärkere Russemissionen, welche die sensible Produktion der Filme und Platten qualitativ stark beeinträchtigten. Man sah sich also nach einem neuen Produktionsstandort um, und die Wahl fiel auf das rund 150 Kilometer entfernte Wolfen, weil hier eine unverdorbene und staubfreie Luft herrschte. Der Standort war zudem verkehrstechnisch günstig, es fanden sich in der Region genügend und willige Arbeitskräfte, und es gab in der Umgebung Kohlegruben, von denen später einige auch Agfa gehörten. So erfolgte Mitte 1909 der Spatenstich für eine neue Filmfabrik auf grüner Wiese anderthalb Kilometer vom 2000-Seelen-Bauerndörfchens Wolfen entfernt.

So weitläufig und abgelegen das Gelände, so aufwändig gestaltete sich die Bau- und Einrichtungsphase des Werkes, denn auf der grünen Wiese gab es nichts. Alles musste mühsam herangekarrt werden, Bahngleise mussten verlegt werden und auch die Geräte, Maschinen und Produktionsanlagen des damals modernsten Filmwerkes waren das Werk genialer Ingenieure und Mechaniker von Agfa, die weitgehend vorbildlos auf sich selbst gestellt waren. Innerhalb eines halben Jahres errichteten mehr als 500 Bauarbeiter die Produktions- und Versorgungsgebäude bis hin zu eigenen Kraft- und Wasserwerken. Dass das Werk auch architektonisch ein neoklassizistisches Prunkstück war, bezeugen heute vereinzelte stehen gelassene Bauten, von denen einesr das Industrie- und Filmmuseum beherbergt. Der unscheinbare Flachbau war einst das Herzstück des Werkes, mit der Begiessanlage, auf der 1936 der erste dreischichtige Agfacolor-Farbfilm hergestellt wurde. Und die Initianten und Kuratoren des heutigen Museums haben peinlich darauf geachtet, dass dieser Urzustand möglichst originalgetreu erhalten blieb, obwohl es in den kommenden sechzig Jahren 35 viel modernere und produktivere Giessanlagen auf den Wolfener Werk gab, um der stetig steigenden Nachfrage nach foto- und kinematografischem Film nachzukommen.

Ein Modell zeigt eindrücklich die Grösse des Industrieareals Wolfen um 1990 mit den verschiedenen Fabrikationsbereichen

Bereits nach vier Jahren erreichte man die konzipierte Produktionskapazität von 20 Millionen Meter Film, doch die Nachfrage, vor allem nach kinematografischem Film, stieg weiter. Der erste Ausbau stand an und war 1914 abgeschlossen. Der Erste Weltkrieg verlangte jetzt Fliegerfilme für die Luftaufklärung – in rauen Mengen und Klarsichtscheiben für die Gasmasken. Nur wurden die Leute, die diese herstellten, in die Schützengräben beordert … Nach dem Krieg wurde die Exportwirtschaft angekurbelt, insbesondere nach Italien und Frankreich, so dass die Produktionskapazität von 100 Millionen Meter Film schon bald wieder ausgelastet. Das Werk wuchs ständig weiter, bis es schliesslich eine Grösse von mehr als 200 Hektaren (= 2 Mio. m²) erreichte und auch vielen Diversifikationsproduktionen (z.B. Chemiefasern und Kunststoffe) Platz bot.

Die wichtigsten Agfa-Produkte, die in Wolfen produziert wurden

Inzwischen wurde auch die Forschung und Entwicklung aus Berlin nach Wolfen verlegt, die unter der Leitung von Professor John Eggert stand, der nach dem Zweiten Weltkrieg aus politischen Gründen nach Zürich emigrierte und hier bis 1961 das Photographische Institut der ETH leitete. Auch Dr. Wilhelm Schneider, der eigentliche «Vater des Agfacolor-Films», kam in die Schweiz, arbeitete bei Tellko in Fribourg und leistete der italienischen Ferrania Entwicklungshilfe, um einen Farbfilm nach den Agfacolor-Verfahren auf den Markt zu bringen.

Das  Industrie- und Filmmuseum Wolfen ist in einem neoklassizistischen Flachbau aus dem Jahr 1909 untergebracht

Rundgang durch die Filmgeschichte

Wenn wir das Industrie- und Filmmuseum Wolfen als «einzigartig» bezeichnen, halten wir diesen Superlativ für gerechtfertigt. Nirgends auf der Welt gibt es eine vergleichbare Anlage, in welcher die Herstellung von Film, von der Produktion des Schichtträgers über die Anmischung der lichtempfindlichen Emulsion und dem Begiess- und Trocknungsprozess bis hin zur Filmkonfektionierung auch nur in ähnlicher Weise verfolgt und erklärt werden kann. Dabei ist der Besucher nie auf sich selbst gestellt, denn es sind nur geführte Besichtigungen möglich, selbst wenn sich nur gerade mal ein Besucher für die Sache interessiert.

Die Führung beginnt mit der Herstellung des Schichtträgers auf einer Giessmaschine aus dem Jahre 1930 (die wahrscheinlich älteste der Welt), in welcher zunächst aus hochflammbarer Nitrocellulose und später aus sicherem Cellulosetriacetat eine dünne Folie gegossen wurde.

Giessanlage für die Hersellung der Schichtträgerfolie aus dem Jahr 1930

Die Anlage besteht im Wesentlichen aus einem 15 Meter langen über zwei Rollen geführten Endlos-Kupferband von 1,2 Meter Breite und einen hoch präzisen Giesskopf, der das Material gleichmässig auf dem Kupferband zu einer klaren Folie aufträgt. Diese wird im Anschluss durch einen Trockenschrank geführt und aufgewickelt. Das alles geschieht noch unter normalen Lichtbedingungen – aber bald wird’s für immer dunkel …

Von der Emulsionsherstellung, einem komplizierten und mit strengsten Fabrikationsgeheimnissen gehüteten Prozess, sieht man im Museum relativ wenig, weil dieser in anderen Gebäuden auf bis zu sieben Stockwerken ablief. Für eine Emulsion wird als Basis tierische Gelatine verwendet, welcher bis zu 50 verschiedene Stoffe in klar einzuhaltender Reihenfolge und bei bestimmten Temperaturen beigemengt werden, darunter auch die lichtempfindlichen Silberhalogenide. Logisch, dass ab jetzt alles im Dunkeln vor sich gehen muss und dass damit die Arbeitsbedingungen für die Arbeiterinnen im Dreischichtbetrieb äusserst gewöhnungsbedürftig – im wahrsten Sinne des Wortes – waren.

Im Schmelzraum wird die flüssige Emulsion temperiert und für den Giessvorgang vorbereitet

Lässt man sich heute den Arbeitsablauf beispielsweise im Schmelzraum erklären, wo die Emulsion mit den letzten Zutaten versehen giessfertig aufgeheizt wurde, kann man sich die peinlich exakte und sehr komplexe Arbeitsweise ohne Licht kaum vorstellen. Von hier wurde die auf exakter Temperatur gehaltene Emulsion über ein beheiztes Leitungssystem zur Begiessmaschine 7 gefördert, in welcher die Emulsion mügenau im Tauchverfahren auf den als Rolle angelieferten Schichtträger aufgetragen wurde. Die exakte, damals manuelle Einstellung der Maschine, war entscheidend für die Schichtdicke und damit für die Qualität des Films, die laufend mit Proben sichergestellt werden musste. Mit dieser Beschichtung lief ein kontinuierlicher und sehr heikler Produktionsprozess ab, der erst beendet war, wenn der Emulsionsvorrat aufgebraucht war.

Auf dieser Begiessanlage wurde 1936 der erste Agfacolor-Film hergestellt

Die frisch begossene Filmbahn wurde nun über ein kompliziertes Fördersystem durch einen Trockenraum geleitet, dessen Temperatur bei 8°C beginnt und je nach Material auf bis zu 40°C ansteigt. Dabei war viel manuelle Arbeit erforderlich, damit sich die hängenden Filmbahnen mit der noch feuchten Emulsion nicht berühren konnten. Am Ende des Trockentunnels wird die Filmbahn zu einem sogenannten «Jumbo» aufgerollt und in einem lichtdichten Transportbehälter zur Konfektionierung gebracht.

Die feuchten Filmbahnen wurden in einem Trockentunnel mit ansteigenden Temperaturen von 8°C bis 40°C getrocknet

Die ausgestellte Begiessmaschine 7 ist ein historisch besonders interessantes Stück. Sie ist nicht nur die einzige übrig gebliebene Begiessmaschine in Wolfen, sondern sie wurde 1935/36 konstruiert, um die neuen drei- bzw vierschichtigen Agfacolor-Farbfilme herzustellen. Dieser chromogene Farbfilm war damals eine Revolution, doch verhinderte der Zweite Weltkrieg eine kommerzielle Nutzung, denn das meiste Material wurde für die politische und militärische Propaganda abgezweigt.

Wir haben vorhin gesehen, wie in einem komplizierten Verfahren eine Schicht auf die Trägerfolie aufgetragen wurde. Bei vier Schichten musste damals das Material viermal durch die Anlage geschickt werden, wobei jedes Mal die Gefahr von Fabrikations- und Toleranzfehlern zunahm. Auf heutigen Giessmaschinen werden bis zu sieben Schichten gleichzeitig aufgetragen mit einer Genauigkeit, die mit nichts mehr an die damalige Pionierzeit erinnert.

Danach wird der fertige Rohfilm aufgespult

Die Filmkonfektionierung, oder die «Aufarbeitung», wie das Zuschneiden, Perforieren und in lichtdichte Patronen oder auf Filmspulen Verpacken im Wolfener Werk genannt wurde, wird in einem Ausstellungsraum gezeigt, in dem Maschinen für verschiedenste Zwecke und aus allen Epochen zu sehen sind. Die meisten davon sind zweckbestimmte Wolfener Eigenentwicklungen, die es nicht zu kaufen gab, oder es fehlte in den späteren Jahren der DDR an Devisen, um diese anzuschaffen.

… und in der «Aufarbeitung» geschnitten, perforiert und in die Patrunen eingespult

Aus der breiten Filmrolle werden nun Filmbänder in bestimmten Breiten geschnitten, aus den der 35mm breite Kleinbild- und Kinofilm, der 60mm breite Rollfilm oder der 10cm (oder mehr) breite Planfilm konfektioniert wird. Für Kleinbildfilm wird das 35mm breite Filmband in einem Stanzautomaten perforiert, damit der Film in der Kamera oder im Filmprojektor transportiert werden kann. Aus den Stanzabfällen wird das Silber zurück gewonnen, bevor diese in der Schichtträgerproduktion rezykliert werden. Gleichzeitig mit dem Perforieren wird die Randsignierung einbelichtet, damit der Fotograf später die Bildnummer und den Filmtyp erkennt, und schliesslich wird der entsprechend der Bilderzahl abgelängte Film in die Patrone gespult. Hier war Akkordarbeit angesagt, denn eine versierte Filmwicklerin schaffte bis zu 420 Kleinbildpatronen in der Stunde – das gibt sieben Filme pro Minute! Und das im Dunkeln …

Blick in das Kameramuseum mit rund 800 historisch interessanten Fotoapparaten …

… und einem Raum, in dem die Kinogeschichte ausgestellt ist

Zum Abschluss des Rundgangs kommen die Besucher noch ins Kameramuseum, wo nicht nur die Meilensteine der Agfa-Kamerageschichte stehen, sondern ein repräsentativer Querschnitt aus der technologischen Entwicklung von Foto- und Kinoapparaten. Insgesamt soll das Museum rund 800 solcher begehrten Sammlerstücke haben, und viele davon sind ausgesprochene Raritäten, auch solche aus den Ostländern, die man bei uns kaum kennt.

Das frühere Agfa- bzw. Orwo-Verwaltungsgebäude dient heute der Stadt Wolfen als Rathaus

Ein blühendes Werk erlebt ein trauriges Ende

Man merkt den eingefleischten Agfa-Leuten an, dass sie einer erfolgreichen Vor-Wende-Zeit nachtrauern und das bittere Ende des grössten europäischen Filmwerkes schmerzvoll miterleben mussten. Die schwierige Zeit begann schon Ende des Zweiten Weltkriegs. Zwar hielten sich die Kriegsschäden in Grenzen, und die Produktion konnte immer irgendwie aufrechterhalten werden. Nach dem Krieg kamen zuerst die Amerikaner und nahmen alle Rezepte, Substanzen und die wichtigsten Forschungsleute mit. Das Agfa-Knowhow wurde dadurch weltweit zum Allgemeingut. Dann kamen die Russen und demontierten rund einen Drittel des Werkes, um in der Sowjetunion mit Wolfener Hilfe ein eigenes Filmwerk aufzubauen. 1954 wurde die Filmfabrik als «VEB Film- und Chemiefaserwerk Agfa Wolfen» in die ostdeutsche Planwirtschaft integriert, und 1964 lief der Grundsatzvertrag mit Agfa Leverkusen aus, so dass das Wolfner Werk die Agfa Namensrechte verlor und ein neues Marketing für «ORWO» (ORiginal WOlfen) Filme aufbauen musste.

Nach 1989 wurden im Filmwerk Wolfen ORWO-Filme produziert

Mit der politischen Wende 1989 hatte die ostdeutsche Filmmarke ORWO kaum noch Chancen im internationalen Wettbewerb, und das Werk, in welchem in den Blütejahren 14‘500 Personen – 8‘000 davon Frauen – bbeschäftigt waren, hatte auch als auf ein Minimum reduziertes Privatunternehmen keine Chancen mehr. 1994 entschied die Treuhandanstalt die Liquidation, und die Verhandlungen mit Agfa Leverkusen brachten, auf Grund der veralteten Anlagen, keine neuen Zukunftsperspektiven. Das Werk stand vor den Aus, die meisten Gebäude wurden abgerissen oder an kleinere Industrie- und Gewerbefirmen verkauft, und das prunkvolle einstige Verwaltungsgebäude dient jetzt der Stadt Wolfen als Rathaus.

Infrarotaufnahme des Industriegeländes Wolfen im Jahre 1990. Orwo-Filme waren im Weltmarkt uninteressant geworden, und für die veraltete Anlage fand sich kein Käufer. Die meisten der Gebäude wurden abgebrochen (Foto Industrie- und Filmmuseum Wolfen)

Übrig geblieben ist auf den Riesengelände ein einzigartiges Museum. Darin ist nicht nur die legendäre Filmbegiessmaschine zu sehen, sondern hier wird der äusserst komplexe Produktionsprozess des Films mit vielen Relikten aus der Vergangenheit veranschaulicht und aus erster Hand erklärt. Hoffentlich bleibt das Industrie- und Filmmuseum Wolfen in dieser Art auch für spätere Generationen erhalten, für die nicht mehr selbstverständlich sein wird, dass man einst zum Fotografieren Filme brauchte.

Text & Bilder Urs Tillmanns

Weitere Informationen finden Sie hier.

 

Industrie- und Filmmuseum Wolfen
Chemiepark Bitterfeld-Wolfen, Areal A
Bunsenstrasse 4
DE-06766 Bitterfeld-Wolfen
Tel.: 0049 3494 63 64 46

 

 

 

 

4 Kommentare zu “Besuch der einst grössten Filmfabrik Europas”

  1. Vielen Dank für diese eindrückliche Reportage. Der letzte Satz trifft 100% ins Schwarze: Solche Museen brauchen die zukünftigen Generationen. Wann findet die erste fotointern Leserreise nach Wolfen statt?

  2. Meine Erfahrungen mit Orwochrome CT18: Bei meinen Polenreisen in den 70ern exklusiv verwendet und Vorort entwickeln lassen. Starke Schwankungen, oft miserable Farben. Lag wohl an der alten Brühe. Hätte wohl nur im besten Labor entwicklen lassen sollen, sich Rat bei Fotografen holen lassen sollen.

  3. So ganz am Ende ist die Filmproduktion in Wolfen jedoch nicht. Ähnlich dem Dorf in Gallien gibt es eine verbliebene kleine Mannschaft, die S/W-Cine-Filme produziert und auch 35-mm-KB-Filme herstellt. Diese jedoch nicht unter eigenem Namen vermarktet.

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