Urs Tillmanns, 28. April 2012, 07:00 Uhr

Buchtipp: «Wir sind jemand – Gruppenfotografien von 1870 bis 1945»

Gruppenfotografien waren bisher kaum von fotohistorischem Interesse und für Fotografen (und Fotografierte) mehr eine Pflichtübung als eine artistische Herausforderung. Und doch sind sie ein bedeutender Spiegel der Gesellschaft. Die Kantonsbibliothek St.Gallen eröffnet nächsten Freitag eine Ausstellung zu diesem Thema, und im Benteli Verlag erscheint ein Buch dazu.

Der Fundus zu diesem Buch stammt von den beiden Autoren Paul Hugger und Richard Wolf selbst. Sie haben die Bilder über Jahrzehnte auf Jahrmärkten und bei Antiquitätenhändlern zusammengesucht und sorgsam gehütet. Jetzt finden Sie wieder den Weg in die Öffentlichkeit, einmal über die Ausstellung in der Kantonsbibliothek St.Gallen (vom 4. bis 26. Mai 2012) dann aber auch als bibliophile Bleibe in einem 348seitigen Buch.

Wenn man sich mit der Thematik der Gruppenfotografien befasst und dabei das Buch «Wir sind jemand. Gruppenfotografien von 1870 bis 1945 – ein Spiegel der Gesellschaft» durchblättert, wird einem bewusst, dass Gruppenbilder von jeher unterbewertet und zu wenig geachtet wurden. Sie zeigen einerseits – entsprechend dem Untertitel des Buches – einen Spiegel der Gesellschaft mit all ihren Schattierungen, anderseits aber auch ein grosses Können der Fotografen. Letzters ist auch heutiger, digitalfotografischer Sicht kaum mehr nachvollziehbar. Man kann den Aufwand solcher Bilder, wie sie vor achtzig oder hundert Jahren gemacht wurden, nur annähernd abschätzen: Da wurden passende Requisiten gesucht und ein geeigneter Hintergrund ins Atelier geschafft oder eine typische Lokalität gesucht, dann wurden die Leute nach bestimmten Regeln und Vorgaben arrangiert, und zwar so, dass niemand verdeckt oder benachteiligt auf dem Bild erschien. Und dann kam der technische Teil, denn belichtet wurde auf grossformatigen Platten, die hinterher im Kontaktverfahren kopiert wurden. Belichtet wurde eine – vielleicht aus Sicherheitsgründen eine zweite. Der Schuss musste sitzen, denn eine zweite Chance bekam der Fotograf kaum.

Das Buch ist eine Augenweide, besonders wenn man es mit fotografischen Augen betrachtet. Wie exakt und akribisch die Personen angeordnet wurden, wie auf jedes Detail geachtet wurde und wie (mehr oder weniger) ungezwungen die Personen auf den Bildern wirken, obwohl das Ganze wahrscheinlich eine längere und wenig beliebte Prozedur war. Anderseits haben die Bilder einen ausserordentlich hohen gesellschaftshistorischen Wert. Sie zeigen meist wohlhabende Familien bei ihren gesellschaftlichen Anlässen, wie Erstkommunion, Konfirmation oder Hochzeiten, dann Aufnahmen von Schulklassen und Studentenverbindungen, Bilder aus der Arbeitswelt, aus dem Tourismus oder von beruflichen und paramilitärischen Organisationen bis hin zum Vereinsleben, zu Musse und Festivitäten oder hin zu Schalk und Lümmelei. Die Vielfalt ist schier uferlos, und die Autoren haben sich sichtlich bemüht eine Ordnung und logische Abfolge in das Thema und das Buch zu bringen.

Wenn Sie sich nur darauf konzentrieren, die ebenso amüsanten wie ernsthaften Bilder zu betrachten, entgeht Ihnen viel, nämlich der Text dazu! Offensichtlich verbirgt sich dahinter ein grosser Rechercheaufwand, denn zu jedem Bild sind aufschlussreiche Details in einem süffigen Schreibstil zusammengetragen worden. Nicht zuletzt dürften viele der darin festgehaltenen Erkenntnisse für spätere fotohistorische Forschungsprojekte von Bedeutung sein.

Zwar bezieht sich das Buch nur auf die erwähnten Privatsammlungen, die nach der Ausstellung in den Bestand der Kantonsbibliothek St.Gallen integriert werden, doch widerspiegelt es gleichsam die Entwicklung verschiedenster Sparten unserer Gesellschaft von 1870 bis 1945. Spannend, wie sich die Leute in den verschiedenen Epochen kleideten, um auf dem Bild möglichst vorteilhaft zu wirken, und interessant welchen Aufwand die verschiedenen und im Buch aufgelisteten Fotografen betrieben – denn Gruppenfotos waren eine lohnende Arbeit mit einem äusserst hohen Referenzwert.

Interessant ist ein Zitat auf dem Umschlag, welches die Bedeutung von Gruppenbildern sehr treffend formuliert: «Unsere Vorfahren haben uns kein Bild von sich selbst hinterlassen. Sie sind dadurch in Vergessenheit geraten. Wir aber sind zum Photographen gegangen. Dank dem Familienbild können sich unsere Nachkommen eine Vorstellung von uns machen. So bleiben wir jemand für sie.» Der Titel des Buches dürfte die Ableitung davon sein …

Zum Schluss muss man auch dem Verlag und der Technik ein Kränzchen winden: Das Buch ist sehr sauber gestaltet und vor allem in hervorragender Qualität gedruckt. Die Abbildungen sind recht treffend wiedergegeben und vermitteln mit den exakten Tönungen Rückschlüsse auf die Verfahren, welche in den einzelnen Epochen angewandt wurden.

Urs Tillmanns

Zur Besprechung wurde uns freundlicherweise ein Vorabexemplar zugestellt, damit dieser Artikel im Vorfeld der Ausstellungseröffnung am 3. Mai 2012 erscheinen kann. Der offizielle Verkauf beginnt mit diesem Datum, sowohl im Shop der Kantonsbibliothek als auch im regulären Buchhandel.

 

 

Buchbeschreibung des Verlages

Fotografien von Gruppen waren um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert ein beliebtes Mittel, sich selbst und seine Lebenswelt festzuhalten. In ihnen äussert sich das ganze Selbstvertrauen des aufsteigenden Bürgertums, das sich bewusst in Szene setzte. Doch trotz der damaligen Popularität von Gruppenfotografien galten sie lange als zu trivial und zu unkünstlerisch, um sich mit ihnen auseinanderzusetzen. In diesem reich bebilderten Buch lassen sich nun bisher meist unveröffentlichte fotografische Schätze aus Privatsammlungen entdecken, und mit ihnen das Flair vergangener Zeiten: wohlerzogene höhere Töchter in weissen Schürzen, stolze Athleten mit ihren Pokalen, Feuerwehrkommandanten, die sich als Retter in der Not verewigt wissen wollen – Familien, Vereine, Schulklassen, Studentenverbindungen, Fabrikbelegschaften, Militärkompanien: Sie alle gehören zu den Charakteren der Gruppenfotografien und überliefern uns damit ein Bild der Schweizer Gesellschaft von 1870 bis 1945 in ihrer ganzen Vielfalt.

 

Der Inhalt

Vorwort von Paul Hugger
Gruppenbilder – von der Fotogeschichte vernachlässigt und gering geschätzt

Kapitel 1: Die Urform: die Familie

Kapitel 2: Rituale im Lebenslauf: Taufe, Erstkommunion, Konfirmation, Hochzeit, Jubiläen

Kapitel 3: Schulzeit, Pensionate, Studentenleben

Kapitel 4: Arbeitswelten

Kapitel 5: Aus der Welt des Tourismus

Kapitel 6: Feuerwehr und paramilitärische Institutionen

Kapitel: 7 Militaria

Kapitel 8: Vereinsleben

Kapitel 9: Musse und Fest

Kapitel 10: Schalk und Lümmeleien

Schlusswort von Richard Wolf

Verzeichnis der Fotografen

 

Die Autoren

Paul Hugger, geb. 1930, ist emeritierter Ordinarius für Volkskunde an der Universität Zürich. Herausgeber u. a. des «Handbuchs der schweizerischen Volkskultur». Verfasser zahlreicher Publikationen zur Schweizer Fotografiegeschichte.

Richard Wolf, geb. 1943. Ausbildung zum Gymnasiallehrer (Geografie, Geologie, Zoologie). Anschliessend Arbeit als Lehrer und nachträgliches Theologiestudium an der Universität Bern. Von 1984 bis zu seiner Pensionierung 2008 Pfarrer der reformierten Diasporakirchgemeinde Freiburg i. Ue.

 

Die Ausstellung
«Wir sind jemand. Gruppenfotografien von 1870 bis 1945 – ein Spiegel der Gesellschaft» ist vom 4 bis 26. Mai 2012 in der Kantonbibliothek Vadiana, St.Gallen zu sehen. Der Eintritt ist frei.

 

Paul Hugger und Richard Wolf
«Wir sind jemand. Gruppenfotografien von 1870 bis 1945 – ein Spiegel der Gesellschaft»
348 Seiten gebunden, mit 10 Ausklappseiten, 164 Abbildungen, meist ganzseitig. Leineneinband mit Schutzumschlag
CHF 78.– / EUR 62.– (D), 63.70 (A)
Benteli Verlags AG
ISBN 978-3-7165-1720-8
Erscheint am 3. Mai 2012

 

 

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