Urs Tillmanns, 9. Dezember 2012, 07:00 Uhr

Die älteste Fotografie der Welt ist in Mannheim zu sehen

Man kennt sie, die älteste Fotografie der Welt, die Nicéphore Niépce 1826 in Le Gras bei Chalon-sur-Saône gelang. Wie aber sieht das Original wirklich aus? Diese Inkunabel der Fotografie ist noch bis 6. Januar 2013 (verlängert bis 24. Februar 2013) in Mannheim zu sehen. Danach entschwindet sie wieder nach Amerika …

 

Die erste Fotografie der Welt – «Der Blick aus dem Fenster in Le Gras» von Nicéphore Niépce

Die Aufnahme, die als die erste Fotografie der Welt gilt, gelang dem Franzosen Joseph Nicéphore Niépce (1765-1833) im Jahre 1826. Die ersten fotografischen Gehversuche datieren bereits ins ausgehende 18. Jahrhundert, aber erst Niépce entwickelte ein Verfahren zur dauerhaften Bildfixierung. Die erste Fotografie der Welt zeigt den Blick aus Niépces Arbeitszimmer auf den Innenhof seines Anwesens in Le Gras. Zu sehen sind der Hof und Nebengebäude. Am Sonnenstand und den sich verändernden Licht- und Schattenwürfen lässt sich eine acht- bis zehnstündige Belichtungszeit ablesen. Das Motiv ist auf einer Zinnplatte fixiert. Der fotochemische Prozess basiert auf den spezifischen Eigenschaften von Asphalt. Der in Lavendelöl gelöste, in einer Schicht auf die Platte aufgetragene Asphalt härtete sich an den unter Lichteinwirkung stehenden Stellen, die unbelichteten Bildpartien dagegen blieben weich und löslich und konnten in einem Bad aus Lavendelöl und Terpentin ausgewaschen werden. Das Resultat war ein dauerhaftes Direktpositiv. Als Bezeichnung für seine Aufnahme wählte Niépce den Begriff «Heliographie», was wörtlich übersetzt «Sonnenzeichnung» heisst.

Die erste Fotografie der Welt «Der Blick aus dem Fenster in Le Gras», welche dem Franzosen Joseph Nicéphore Niépce (1765-1833) im Jahre 1826 gelang, zeigt im Original kaum erkennbare Bildspuren.  © Harry Ransom Center, The University of Texas at Austin

Niépce blieb die Anerkennung für sein Werk verwehrt. Lange Zeit galt sein späterer Partner Louis Jacques Mande Daguerre (1787-1851) mit einer Aufnahme aus dem Jahre 1838 als Erfinder der Fotografie. Erst das Sammlerehepaar Helmut und Alison Gernsheim datierte mit der Wiederentdeckung der ersten Heliographie von Niépce die Geburtsstunde der Fotografie vor. «Der Blick aus dem Fenster in Le Gras» war 1898 in einer Ausstellung im Crystal Palace in Sydenham zu sehen. Danach verlor sich ihre Spur für mehr als ein halbes Jahrhundert, bis dem Sammlerehepaar Helmut und Alison Gernsheim ihre Wiederentdeckung gelang.

So kennt man das Bild. Das Original wurde 1952 im Forschungslabor von Kodak in Harrow reproduziert. Danach verbesserte Helmut Gernsheim einen Barytabzug mit Wasserfarbretusche. © Harry Ransom Center, The University of Texas at Austin

 

Am Anfang ihrer Suche hatten auch die Gernsheims nicht mehr in der Hand als die spärliche Information über den letzten Ausstellungsort. Um eine verwertbare Spur aufgreifen zu können, veröffentlichten sie 1948 bis 1950 mehrere Aufrufe in Tageszeitungen, zunächst erfolglos, dann aber mit der schlechten Nachricht eines Henry Baden Pritchard II., der sich an das gesuchte Bild erinnerte, jedoch nicht wusste, wo es nach der Ausstellung im Crystal Palace abgeblieben sei. Er vermochte auch nicht zu sagen, ob es überhaupt noch existiere oder nicht gestohlen oder gar zerstört wurde. Anderthalb Jahre schrieb die Witwe Pritchards II, dass sie das gesuchte Bild in einem Schrankkoffer, den ihr Mann 1917 in einem Lagerhaus deponiert hatte, gefunden habe, doch sei auf der Platte nichts mehr zu erkennen. Helmut Gernsheim reiste hin und hielt am 14. Februar 1952 zum ersten Mal die erste Fotografie der Welt in seinen Händen. Später beschrieb Gernsheim diesen Moment: «Ich war wie erstarrt. Ich hatte nicht erwartet, dass die Zinnplatte sich wie ein Gemälde hinter Glas und in einem Empirerahmen befand. Ich ging zum Fenster und hielt die Platte im Winkel zum Licht, wie man es auch mit Daguerreotypien macht. Es war kein Bild zu sehen. Ich veränderte den Winkel und plötzlich entfaltete sich vor meinen Augen das Gesamtbild des Innenhofs …»

Rückseite des Originalrahmens der Heliografie Blick aus dem Fenster in Le Gras (1826) von Joseph Nicéphore Niépce mit den unterschiedlichen Eigentümervermerken: den handschriftlichen Notizen von Francis Bauer (1827), dem Besitzeretikett von Henry Baden Pritchard (1884) und dem Sammlungsstempel von Helmut Gernsheim. © Harry Ransom Center, The University of Texas at Austin

1961 war Niépces berühmtes Werk in einer Ausstellung in München zum letzten Mal in Europa zu sehen. 1963 verkauften die Gernsheims ihre komplette Sammlung historischer Fotografien an das Harry Ransom Center der Universität Texas in Austin. Als grosszügige Schenkung vermachten sie dieser Institution auch die erste Fotografie der Welt. Nach 50 Jahren kehrt sie nun für die Ausstellung «Die Geburtsstunde der Fotografie» wieder nach Europa zurück. Die Heliographie wird einzig in der Ausstellung in den Reiss-Engelhorn-Museen zu sehen sein. Aus konservatorischen Gründen wird sie normalerweise nie verliehen. Da sich aber der zweite, zeitgenössische Teil der Gernsheim-Collection seit 2002 im Forum Internationale Photographie der Reiss-Engelhorn-Museen befindet, haben die Verantwortlichen des Harry Ransom Center der Reise ausnahmsweise zugestimmt. Die Mannheimer Ausstellung vereint damit seit einem halben Jahrhundert wieder Meilensteine beider Teile der Gernsheim-Collection.

So präsentiert sich die älteste Fotografie der Welt in der Ausstellung des Reiss-Engelhorn Museums. Foto: rem / Carolin Breckle

Die erste Fotografie der Welt reist in einem ausgeklügelten Schaukastensystem. Es basiert auf Untersuchungen, die das Harry Ransom Center 2002 gemeinsam mit dem Getty Conservation Institute durchgeführt hat. Es soll Niépces Heliographie dauerhaft vor den direkten und indirekten Folgen eines sauerstoffinduzierten Verfalls schützen und sie auf diese Weise für die Zukunft bewahren. Ein Designerteam entwickelte ein vollkommen neues Ausstellungsmodul, das ein hermetisch versiegeltes, sauerstofffreies Schaukastensystem in einer Argon-Atmosphäre beinhaltet. Das Ausstellungssystem besteht aus einem Schaukasten, der in mit einem Neigungswinkel von circa 35 Grad einen optimalen Blickwinkel auf Niépces Werk ermöglicht, und einem Untergestell mit Messinstrumenten und einem Alarmsystem. Die Temperatur, die relative Luftfeuchtigkeit, die Sauerstoffkonzentration und der Luftdruck im Inneren des Schaukastens werden laufend aufgezeichnet. Ein ähnliches Konservierungssystem bewahrt auch wichtige Objekte und Urkunden wie die ägyptische königliche Mumiensammlung oder die indische Verfassung.

 

250 Ikonen der Fotogeschichte

Neben dem Herzstück der ältesten Fotografie der Welt sind in der Ausstellung «Geburtsstunde der Fotografie» im Reiss-Engelhorn-Museum in Mannheim noch 250 weitere Meisterbilder weltbekannter Fotografen zu sehen. Die Ausstellung gibt damit einen noch nie dagewesenen Einblick in die Geschichte der bildmässigen Fotografie des 19. und 20 Jahrhunderts, von den ersten Daguerreotypien über die Viktorianische Epoche bis hin zu den Meisterwerken zeitgenössischer Fotografen, welche das kollektive Bildgedächtnis heute prägen. Zu sehen sind Werke aus den Bereichen der Akt-, Architektur-, Reise-, Stadt-, Landschafts- und Porträtfotografie ebenso wie experimentelle und journalistische Bilder weltbekannter Fotografen wie Ansel Adams, Brassai, Robert Capa, Henri Cartier-Bresson, Alfred Eisenstaedt oder Robert Lebeck. Die einmalige Zusammenführung der Werke aus dem historischen sowie dem zeitgenössischen Teil der Gernsheim-Sammlung in einer umfassenden Gesamtschau ermöglicht dem Ausstellungsbesucher faszinierende Einblicke in die fast zweihundertjährige Historie der Fotografie.

Ermöglicht wurde die Ausstellung durch die Zusammenarbeit der Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim mit dem Harry Ransom Center der Universität Texas in Austin, das den historischen Teil der Gernsheim-Sammlung aufbewahrt.

Zur Ausstellung ist im Kehrer Verlag ein Begleitband erschienen, der sämtliche ausgestellten Bilder in hervorragender Druckqualität dokumentiert. Begleitet wird diese Dokumentation von einem deutschen und englischen Text. Der Preis im Museumsshop beträgt 29,90 Euro. Er kann auch per E-Mail bestellt werden. Im Buchhandel kostet der Band 39,90 Euro.

Beachten Sie hier weitere Infos und die Öffnungszeiten des Reiss-Engelhorn-Museums.

Weitere Informationen zur Ausstellung, die noch bis 6. Januar 2013 (verlängert bis 24. Februar 2013) in Mannheim zu sehen ist, finden Sie unter www.rem-mannheim.de

 

 

 

 

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