Urs Tillmanns, 8. Februar 2014, 07:00 Uhr

Buchtipp: «Marcel Chassot – abstrahieren, geometrisieren, ästhetisieren»

Marcel Chassot zeigt uns in einem aussergewöhnlichen Bildband eine faszinierende Welt der Makro-, Menschen- und Architekturfotografie. Nicht nur die Bilder stehen formal und technisch auf einem sehr hohen Niveau, sondern sie gewinnen durch einen subtilen und informativen Text des erfahrenen Fotografen zusätzlich an Aussagekraft. Fazit: Ein guter Mix von Bildband, Lehrbuch und Autobiografie.

 

Es steckt eine erstaunliche Geschichte dahinter, die es sich im Vorwort zu lesen lohnt: Beim vierjährigen Marcel Chassot stellt man einen seltenen Tumor im Nebennierenmark fest, der ohne Strahlenbehandlung andere Organe und die Knochen befallen wird. Ergreifend schildert Chassot, welche Heilungschancen ihm vorausgesagt wurden und welche Therapiemethoden er vor sechs Jahrzehnten über sich ergehen lassen musste. Eine schwere Hypothek für einen kleinen Jungen, die ihn seine ganze Jugendzeit hindurch belastete. «Was muss ich im Leben werden, damit ich in den Himmel komme?» soll Marcel seine Mutter einmal verzweifelt gefragt haben …

Er hat das Beste daraus gemacht. Er hat sich ein Hobby zugelegt, für das er sich voll begeistern und seine Kreativität ausleben konnte – Dinge gestalten, die ihm gefielen und die andere bewunderten: die Fotografie. Und wenn man diesen Hintergrund kennt und das Vorwort eben nicht überlesen hat, dann versteht man auch plötzlich den Untertitel des Buches: «Künstlerische Fotografie als Überlebensstrategie».

Der Text spielt in diesem Buch eine wichtige Rolle. Es ist nicht einfach ein Bildband, sondern es ist eine fotografische Autobiografie, in welcher uns Chassot durch seine drei wichtigsten Motivbereiche führt: Makrofotografie, Menschen sowie Architektur und Industrie. Motivbereiche, die nicht unbedingt zusammen passen, die aber anderseits in einem Buch das breite Arbeits- und Kreativitätsspektrum von Chassot aufzeigen. Und hier setzt wieder der begleitende Text ein, der eigentlich die Bilder nicht unbedingt erklären müsste, der jedoch aufzeigt, wie diese entstanden sind, interessante Hinweise zu Motivwahl und Bildgestaltung liefert und aufschlussreiche Abhandlungen zu den drei Motivbereichen wiedergibt. Dieser Mix von herausragenden Bildern und interessanten Texten macht das Buch nicht nur sehens- sondern auch lesenswert.

Wo liegt das Schwergewicht des Buches, welches sind die besten Bilder von Marcel Chassot? Schwer zu sagen! Für mich sind es seine Makroaufnahmen, welche die Insekten- und Blumenwelt in berauschender Perfektion zeigt. Die Bienen, Wespen und Glückskäfer, bis hin zum Porträt der Gottesanbeterin, bei der man meinen könnte, sie hätte für Marcel Chassot stundenlang Modell gestanden. Mit dabei die Welt der Blumen in farbigem Licht fotografiert und perfekt harmonisch in den Raum gesetzt. Hier zählt nicht nur das Motiv und die fotografische Technik, sondern auch das formale Empfinden des Fotografen. Es sind Bilder, die in vielerlei Hinsicht beispielhaft sind, und die gerade für junge Fotografen mit dem erklärendem Text eine ästhetische und fachliche Bereicherung darstellen.

Nicht weniger die Menschenbilder. Hier verfolgt Chassot das Heranwachsen seiner Kinder und zeigt uns mit vielen Beispielen wie kreativ Kinderfotografie sein kann. Ein zweites Lieblingsgebiet ist die Ballettfotografie, in die uns Chassot einweiht und uns vieles über die rhythmische Bewegungskunst und wie man diese am wirkungsvollsten fotografiert beibringt. Schliesslich sind es aber auch die Strassenszenen, die begeistern und die reaktionsschnelle Arbeitsweise sowie den Sinn für Situationskomik von Chassot dokumentieren.

Die Architektur- und Industriefotografie, dritter und letzter Teil des Buches, ist nochmals ein Höhepunkt. Die Architekturfotografie ist das jüngste Betätigungsfeld von Chassot, und es ist erstaunlich, wie viele interessante Bauten und Komplexe Chassot auf seine Weise fotografiert hat. Wie in seinen Makroaufnahmen sind auch die Architekturen von starker Farbe geprägt – ein wichtiges Stilmittel von Chassot, welches er hier besonders eindrucksvoll einsetzt wurde. Und es sind nicht nur Bilder, die uns ansprechen, sondern auch hier ein sehr guter erklärender und spannend zu lesender Text.

Ja, was ist es nun eigentlich, das Buch von Marcel Chassot? Es zeigt, wie man mit der Fotografie abstrahieren, geometrisieren und ästhetisieren kann. Ein Buch, das uns in seiner aussergewöhnlichen Art viel zeigen will: Gute Fotografie – und wie man sie macht.

Urs Tillmanns

Chassot 01

Buchbeschreibung des Verlages

Marcel Chassots brillante Fotos und biografische Texte sind Ausdruck des Versuchs, seiner lebensbedrohlichen Erkrankung Struktur und Schönheit, Ordnung und Harmonie entgegenzusetzen. Seine Aufnahmen beeindrucken durch die Reduktion auf wenige Bildelemente, die sich zu harmonischer Linienführung und Flächenaufteilung verbinden. Orchideen, Lilien, Insekten, Porträts von Kindern, Ballettszenen und Bauwerke berühmter Architekten, von Mario Botta bis SANAA – alles ist durchdrungen von Klarheit und Präsenz, die charakteristisch sind für Chassots fotografisches Werk.

Das Buch gliedert sich in drei Bereiche: Makrofotografie, Menschen, Architektur und Industrie. Jeder Themenbereich enthält Hinweise zur Bildgestaltung und entsprechende technische Anmerkungen. Es sind dabei weniger die Objekte, die verblüffen, sondern eben das, was Chassot als Fotograf aus ihnen macht – mit Licht, mit Farbe und einer einzigartigen Komposition. Die Bildelemente sind durchgestaltet. Linien und Flächen verbinden sich zu harmonischen, gleichzeitig auch spannungsvollen Strukturen. Klare Strukturen als Gegenkraft zum chaotischen Wachstum der Krebszellen? Ästhetik als Resultat einer Suche nach strukturbildenden Kräften, die das menschliche Dasein transzendieren? Fotografie als Überlebensstrategie! Wer die Bildsprache von Chassot verstehen will, findet hier den Schlüssel.

«Abstrahieren, geometrisieren, ästhetisieren», so kann man die Gestaltungsformel umschreiben, die sämtliche Themenbereiche verbindet. Im Bild eines Blumenstilllebens, im Foto eines Insekts oder in der Aufnahme eines Bauwerks, im Grossen wie im Kleinen – überall findet der Betrachter klar definierte Strukturen. ln allen Fotografien, sei es im Architekturbild auf dem Buchcover oder im Nautilus auf dessen Rückseite, schwingen verwandte Melodien. Es erscheint nur folgerichtig, dass der Autor sein Buch mit dem Kapitel «Kunst und Ästhetik» ausklingen lässt. In diesem letzten Teil reflektiert Marcel Chassot sein Tun – gestützt auf evolutionsbiologische Erkenntnisse, die für ihn wegweisend geworden sind.

Chassot 02

Der Inhalt

Teil 1: Einführung
Vorwort des Autors
Jenseits von Eden – Der Blick des Poeten (Henri R, Paucker)

Chassot 03

Teil 2: Makrofotografie
Aufbruch und Aufbau
Bild und Technik: Besonderheiten der Makrofotografie
Symbiose von Natur und Gestaltung (Urs Tillmanns)

Chassot 04

Teil 3: Menschen

Chassot 05

• Kinder
Zuwendung und Zerstörung
Bild und Technik: Fallstricke im Archiv

Chassot 06

• Ballett
Ästhetik und Erziehung
Bild und Technik: Institutionell verordnete Bildqualität

Chassot 07

• Strassenszenen
Zusammenbruch und Neubeginn
Bild und Technik: Stolpersteine der Strassenfotografie

Chassot 08

Teil 4: Architektur und Industrie
Aufbruch in neue Dimensionen
Bild und Technik: Bewilligungsgesellschaft in Hochblüte

Chassot 09

Teil 5: Ausklang
Kunst und Ästhetik

Chassot 10

Anhang
Anmerkungen
Der Fotograf
Dank

Chassot 11

 

Der Fotograf

Marcel Chassot, 1947 in Zürich geboren, ist promovierter Wirtschaftswissenschaftler und fotografischer Autodidakt. Raffinierter Umgang mit Licht, ein besonderes Gespür für die formale Bildgestaltung und virtuoses Spiel mit den Formen der Natur machten ihn und seine Makroaufnahmen bald über die Grenzen der Schweiz hinaus bekannt. Zudem entwickelte Marcel Chassot schon früh seine besondere Art stilisierter Kinderporträts, die sich durch ihre grafische Wirkung und die Spontaneität im Rahmen des «Gestellten», des Arrangements, auszeichnen. Über die Makrofotografie fand Marcel Chassot zur Ballettfotografie. Heute liegt der Schwerpunkt bei Architektur- und lndustrieaufnahmen, und an die Stelle von Kinderporträts sind Bilder des Lebens in Zürichs Strassen getreten.

 

Marcel Chassot
abstrahieren, geometrisieren, ästhetisieren
Künstlerische Fotografie als Überlebenstrategie
352 Seiten gebunden, fester Einband, Schutzumschlag
Verlag E.A. Seemann, Leipzig
Preis: CHF 66.90, € 49.95
ISBN 978-3-86502-325-4

Das Buch kann hier online bestellt werden

 

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