Gastautor/-in, 19. Juli 2015, 14:23 Uhr

«TUBIS» – oder: Wie wähle ich mein Kamerasystem

Qual der Wahl, wenn es darum geht, sich für ein neues Kamerasystem zu entscheiden. Peter Schäublin hat dieses Verfahren kürzlich durchlaufen und hat dazu ein interessantes Beurteilungssystem angewandt. Lesen Sie hier, was es mit «TUBIS» auf sich hat – das sich übrigens auch für andere Entscheidungsvorgänge anwenden lässt.

 

Fotografieren und Filmen sind so populär wie wohl noch nie zuvor. Das Bildermachen war noch nie so einfach und die Möglichkeiten zur Verwertung der Fotos noch nie so vielfältig. Als Inhaber eines Werbe- und Grafikateliers beobachte ich, dass der Wert der Fotografie und auch deren Qualität in den Medien wieder steigt. Doch womit realisieren wir unsere Bilder? Immer wieder erhalte ich Anrufe oder E-Mails von Bekannten, die mich fragen, welche Kamera sie sich kaufen sollen. Zudem habe ich mir selbst nach über 30 Jahren «markentreue» Gedanken gemacht, ob ich auf ein neues Kamerasystem umsteigen soll.

 

Die Emotionen …

Kamerahersteller geben viel Geld dafür aus, ihre Systeme ins beste Licht zu rücken. Das ist gut so, denn so können wir uns informieren und auch etwas über die Philosophie der verschiedenen Anbieter erfahren. Die Botschaft jeder Marke ist eigentlich dieselbe: «Nur mit unseren Kameras kannst du die besten Bilder realisieren!» Und so sind dann viele Leute wohl gut informiert, aber auch etwas verunsichert und rufen deshalb einen fotobegeisterten Bekannten an, von dem sie sich Rat erhoffen. Ich habe versucht, eine Art Matrix zu entwickeln, um Ratsuchenden auf dem Weg zu ihrer Kamera ein paar Tipps mitzugeben. Diese Matrix heisst TUBIS:

Tubis_Matrix_01

Die Tubis-Matrix. Was es damit auf sich hat, erfahren Sie im Artikel. Ideal wäre, wenn ein Kamerasystem in allen fünf Bereichen den Maximalwert von 10 erreichen würde. In der Praxis wird dies aber kaum der Fall sein.

 

T wie Technik

Die technischen Daten einer Kamera kann man relativ schnell eruieren. Welche Programme bietet sie? Wie schnell ist der Autofokus? Kann sie filmen? Erstellen Sie zuerst eine Liste Ihrer Bedürfnisse. Kernfragen dabei sind:

Wie gross wollen Sie Ihre Bilder ausgeben? Für einen Print im Format A3 benötigen Sie beispielsweise für eine optimale Qualität 8 Megapixel (200 dpi reichen für einen Ausdruck absolut). Natürlich möchte man noch etwas Reserve haben, um nachträglich Bildausschnitte machen zu können. Doch einfach viele Megapixel bunkern, nur um damit bei den Bekannten anzugeben oder um das neueste Modell zu besitzen, macht eigentlich wenig Sinn. Denn ein Plus an Auflösung erkauft man – zumindest bei gleicher Sensorgrösse – mit einem Minus an Dynamikumfang, mit schlechterem Rauschverhalten in hohen ISO-Zahlen und oft auch mit einem höheren Kaufpreis.

Was wollen Sie mit Ihrer Kamera fotografieren? Benötigen Sie wirklich viele Motivprogramme und einen ultraschnellen Autofokus mit 300 Feldern? Wenn Sie schnell verändernde Szenen fotografieren, dann sind diese Features sinnvoll, ansonsten tun es auch weniger aufgerüstete Kameras.

Wollen Sie mit Ihrer Kamera filmen? Bietet die Kamera sinnvolle Fokussierhilfen beim Filmen? Filmt die Kamera in HD oder sogar in 4K? Welche Bildrate ist mit der Kamera möglich? Vergleichen Sie die Informationen mit Ihren Ansprüchen.

Wie viel Gewicht wollen Sie mitschleppen? Ist Leichtigkeit oberstes Gebot oder dürfen es auch ein paar Gramm mehr sein? Anhand Ihrer Antworten und den Informationen der Kameraanbieter können Sie eine Vorabauswahl derjenigen Systeme treffen, die Ihre Bedürfnisse ganz oder zu einem grossen Teil erfüllen.

U wie Umgang

Besuchen Sie Ihren Fachhändler oder Messen, an denen Sie die Kameras, die in Frage kommen, «live» ausprobieren können. Jeder Mensch tickt anders. Der eine bevorzugt Multifunktionsbuttons (lieber weniger Knöpfe mit Doppelfunktionen), der andere möchte für jede Funktion einen eigenen Knopf. Dem einen scheint die Menüführung von Kamerahersteller X absolut logisch, ein anderer findet sich darin nur schlecht zurecht. Wir Menschen sind – Gott sei Dank – verschieden. Testen Sie den Umgang mit einer Kamera. Lassen Sie sich die Bedienung erklären. Ist für Sie die Anordnung der Bedienelemente und der Aufbau des Kameramenus logisch oder unlogisch? So können Sie aus die in Frage kommenden Modelle weiter aussieben.

B wie Bildqualität

Nicht nur die Megapixel beeinflussen die Bildqualität. Auch weitere Sensoreigenschaften, Prozessoren und Objektive haben einen grossen Einfluss darauf. Wie hoch sind Ihre Ansprüche diesbezüglich? Wie viel Geld können/wollen Sie für Ihr Kamerasystem und damit für die Bildqualität ausgeben? Gerade im oberen Qualitätssegment werden die Objektive teuer. Es ist nicht sinnvoll, eine teuere Hochmegapixelkamera zu kaufen und dann bei den Objektiven zu sparen.

Es gibt immer wieder Testbilder auf dem Internet zum Downloaden; dennoch empfehle ich Ihnen, beim nächsten Messebesuch eine eigene Speicherkarte mitzunehmen. Fragen Sie das Personal am Stand, ob Sie ein paar Bilder realisieren und auf Ihrer eigenen Karte abspeichern dürfen. Wenn es sich nicht um ein Vorserienmodell handelt, ist das eigentlich immer möglich. Fotografieren Sie mit Objektiven, die Sie nachher auch wirklich anschaffen möchten, und realisieren Sie Bilder mit verschiedenen ISO-Werten. Fotografieren Sie in RAW oder JPG – je nachdem, wie Sie nachher Ihre Bilder aufnehmen möchten. RAW-Bilder enthalten mehr Informationen, sind aber bearbeitungsintensiver als JPG-Dateien.

I wie Inspiration

Ein Punkt, der meines Erachtens oft unterschätzt wird. Wie fühlt sich die Kamera in Ihrer Hand an? Ist das Sucherbild klar und hell? Oder benötigen Sie gar kein Sucherbild? Dann beurteilen Sie die Qualität des Monitors und die Geschwindigkeit, wie das Bild nachgeführt wird. Jede Kamera beeinflusst Ihren Bildstil. Wenn Form, Materialien und Funktion der Kamera Sie inspiriert, wird Sie das zu kreativen Höhenflügen anstacheln. Wenn Sie beim Griff zur Kamera innere Widerstände verspüren, wird sich das in der Regel auch in den Bildern bemerkbar machen.

Ich erinnere mich diesbezüglich an ein Erlebnis an der letzten Photokina: Ich wollte ein neues Kameramodell ansehen, weil es von den technischen Daten her für meine Art von Fotografie sehr gut gepasst hätte. Ich nahm die Kamera in die Hand und merkte schon nach kurzer Zeit, dass ich mich überhaupt nicht wohl fühlte mit ihr. Die Form und die Oberflächenmaterialien behagten mir nicht. So fiel sie aus meiner Auswahl. Auch hier gilt: Jede Person nimmt die Haptik, die Form und die Displays einer Kamera unterschiedlich wahr. Was für den einen perfekt ist, passt für den anderen überhaupt nicht. Deshalb ist auch in diesem Punkt das physische Be-greifen unbedingt notwendig.

S wie System

Kann das gewählte System mit Produkten vom Hersteller oder kompatiblen Fremdprodukten alle Ihre Bedürfnisse abdecken? Welchen Brennweitenbereich benötigen Sie? Benötigen Sie eventuell Sonderzubehör wie zum Beispiel ein wasserdichtes Unterwassergehäuse? Benötigen Sie externe Recorder, um Filme in höchster Qualität ausserhalb der Kamera aufzuzeichnen? Diese Fragen können Sie in der Regel mit Internetrecherchen beantworten. Bei kniffligen Fragen ist auch hier ein Kontakt mit dem Verkaufspersonal an einer Messe Gold wert.

 

Panta rhei …

Alles ist natürlich immer im Fluss. Kamerasysteme entwickeln sich weiter. Man kann davon ausgehen, dass sich die Modellpalette der grossen Namen permanent weiterentwickeln wird. Manchmal kommen Innovationen je nach Hersteller etwas zeitversetzt, doch man kann davon ausgehen, dass Neuerungen früher oder später von allen Anbietern in ihren Kameras verbaut werden. Wenn Sie also auf ein System setzen, verlieren Sie nicht die Nerven, wenn ein Konkurrent überholt. Nach einer gewissen Zeit nivelliert es sich wieder aus. Bei Nischenherstellern ist etwas mehr Vorsicht geboten. Hier kann es unter Umständen länger dauern, bis Innovationen ihren Weg in die Produkte finden (manchmal liefert aber eben ein Nischenhersteller genau das an einer Kamera, was für Sie extrem wichtig ist).

Der Gau ist immer, wenn eine Marke nicht mehr weiterbesteht oder grundlegendes ändert, dass alte Systemteile, vor allem Objektive, nicht mehr kompatibel sind. Wobei es für letzteren Fall ja unterdessen findige Hersteller gibt, die gerne mit entsprechenden Adapterringen in die Bresche springen …

Zudem empfehle ich Ihnen, nicht allzu viel Zeit mit dem Surfen in Foren zu investieren. Ich habe im Zug meiner Evaluation etwas mehr auf entsprechenden Sites gesurft und war teilweise von der Qualität der Einträge schockiert. Papier nimmt viel an, und das Internet noch mehr …

 

Und wie ging meine Evaluation aus?

Ich hatte das Vorrecht, mit fast allen meinen Traumkameras arbeiten zu dürfen. Jede von ihnen hat mich enorm beeindruckt. Ich habe mit jeder sehr gerne gearbeitet. Keine erfüllte alle meine Vorgaben, die wie folgt aussahen:

• Auflösungsvermögen min. 35 Mpx

• Bestmöglicher Dynamikumfang

• Möglichst wetterunempfindlich

• Gute Bildresultate bis 6400 ISO

• Filmen mindestens Full HD, lieber 4K

• Optischer Sucher, da ich das optisch Bild den bis jetzt auf dem Markt befindlichen elektronischen Suchern vorziehe

• Objektivbereich von 14 bis 600 mm (bezogen auf Vollformat DSLR)

• Schneller (nicht ultraschneller) Autofokus mit verschiebbarem Autofokusmessfeld

 

Tubis_Matrix_02

So sah das TUBIS-Diagramm nach meiner Evaluationsphase aus. Das dick ausgezogene rote Fünfeck ist die Nikon D810 mit dem Nikon-System, für das ich mich entschieden habe. In den anderen Farben sind die Mitbewerber eingezeichnet. In einzelnen Belangen waren sie dem Nikon-System wohl überlegen, aber in der Gesamtabrechnung waren sie für meine Zwecke weniger stimmig.

Am nächsten an diese Werte kam die Nikon D810. Obwohl ich vorher mit einer anderen Marke fotografiert hatte, war mir die Bedienung der D810 in ihren wesentlichen Punkten sehr schnell vertraut. Die Kamera fühlt sich für mich sehr gut in der Hand an, und das optische Sucherbild ist toll. Im Objektivprogramm habe ich alles gefunden, was mein Fotografenherz begehrt. Nebst dem Zubehör von Nikon selbst bieten viele Fremdhersteller interessante Teile für die D810 an.

Und so bin ich jetzt seit ein paar Wochen mit der Kamera unterwegs. Die D810 ist eigentlich eine Tiefstaplerin. Ich arbeite meist im Quiet-Modus, und so verrichtet sie ganz leise ihre Arbeit. Wenn ich dann aber die RAW-Files auf meinen Computer ziehe und anfange, sie zu bearbeiten, bin ich bezüglich Schärfe, Detailreichtum und Dynamikumfang immer wieder von dem begeistert, was die Kamera liefert. Bei den Objektiven habe ich mich für die drei klassischen Zooms 2.8/14–24, 2.8/24–70 und 2.8/70–200 entschieden. Wenn es schnell gehen muss beim Fotografieren, ist dieses Dreigestirn im Einsatz und liefert tolle Resultate. Wenn ich wirklich das letzte Quentchen an Qualität aus der D810 herauskitzeln will, arbeite ich mit den Festbrennweiten, von denen Nikon in den letzten Monaten einige neu aufgelegt hat, um die Qualität des hoch auflösenden Sensors voll auszunützen. Hier kann ich ganz selektiv diejenige Linse einsetzen, die für die gestellte Aufgabe am besten geeignet ist.

Ich kann mit dem Nikon-System den Spagat zwischen Reportage- und Fineart-Fotografie sehr gut bestreiten. Auf meiner nächsten Kajakexpedition werde ich erstmals mit einem Gehäuse beide Bereiche abdecken können. Ein Bericht über meine diesbezüglichen Erfahrungen folgt im September oder Oktober.

Wie Sie in meinem TUBIS-Diagramm sehen, erreicht das Nikon-System nicht überall den Spitzenwert. Sollte ich einmal an die Grenzen stossen – was viel brauchen wird, aber ganz auszuschliessen ist es nicht –, gibt es tolle Rental-Services, wo ich punktuell Kameras und Objektive eines anderen Systems mieten kann. Bei diesen Firmen kann man übrigens auch mal eine Kamera und ein paar Objektive über ein Wochenende mieten oder ausleihen, wenn man etwas intensiver mit einem System arbeiten möchte, bevor man es kauft. Kostet zwar ein paar Franken, aber «me hät au scho tümmer Gäld usgäh».

Falls Ihnen die Firma die Kamera kostenlos ausleiht (oder die Miete bei einem Kauf anrechnet) oder wenn Sie dort Beratung in Anspruch nehmen, ist es Ehrensache, die Kamera dann dort zu kaufen und nicht im Onlineshop, der noch ein paar Fränkli günstiger ist. Beratung hat ihren Preis, aber auch ihren Wert … 😉

Peter Schäublin, Grafiker, Fotograf und Texter
720.ch // photoriginals.com

 

 

 

3 Kommentare zu “«TUBIS» – oder: Wie wähle ich mein Kamerasystem”

  1. Man nennt das seit Jahrzehnten „Systems Engineering“. Damit habe ich Ende 70er den Wechsel von Olympus OM auf Canon, Nikon oder Contax beurteilt. Bin bei Contax gelandet.

  2. Auch wenn man es schon seit längerem kennt (auch aus anderen Branchen), ist es sicher eine gute Idee, die wichtigsten Punkte in einer Spinnengrafik nochmal zu vergleichen. Und Neu-Einsteiger diese Technik näher zu bringen.
    Ich würde noch zwei weitere Gebiete anschauen: Portrait, Sport, Landscape, Makro… und Gewicht, Grösse, Unauffälligkeit, prekäre Lichtverhältnisse,…
    Es gibt schon genug Touristen die mit einer DSLR mit 24-70/4.5-5.6 rumlaufen und vermutlich noch nie das Objektiv gewechselt haben (weil sie auch kein anderes besitzen). Aber sehr stolz sind, dass XXX auf ihrer Kamera steht.
    Mich würde es wunder nehmen, was die anderen Linien für Modelle waren. 🙂

  3. Guter Artikel, doch ohne grosse Erfahrung in der Fotografie für Anfänger kaum anwendbar. Als Profi, Semiprofi oder engagierter Hobbyfotograf kann man diese Aspekte sicher beurteilen. Doch viele der Anfänger haben noch nicht mal eine Ahnung was sie fotografieren wollen. Sie wissen einzig, dass sie sich intensiver mit der Fotografie beschäftigen wollen. Das System erweckt den Anschein man könne so auf Anhieb das ideale System evaluieren. Der Hang zu möglichst viel haben wollen um sich nichts zu vergeben ist die grosse Gefahr. Ich empfehle am Anfang ein günstiges Einstiegssystem wie zum Beispiel eine M43 Olympus OMD-EM10 mit Kotobjektiv. Dort gibt es Spezialobjektive wie das 45er 1.8 für kleines Geld und man kann sich langsam an seine Bedürfnisse herantasten. Wer bei einer Erstevaluation auf eine D810 mit 14-24, 24-70 und 70-200 und ein paar Festbrennweiten käme wäre wohl definitive falsch beraten. Das man später mal da landet kann durchaus sein, aber bis dahin ist ein weiter Weg an fotografischer Erfahrung und Kenntnis der eigenen Bedürfnisse. Und diesen Weg kann man nur bedingt abkürzen. Wohl verstanden ich arbeite auch mit Vollformat DSLR von Nikon habe die besagten Objektive und fotografiere doch grossteils mit spiegellosen Kameras wie der Olympus OMD oder der Fuji X100. Übrigens die Fotos des Autors auf seinen Seiten gefallen mir gut und er versteht sein Handwerk sicherlich.

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