Urs Tillmanns, 18. Oktober 2015, 07:00 Uhr

Wer giesst heute noch Fotoplatten selbst – und weshalb?

In der Anfangszeit der Fotografie musste man seine Fotoplatten noch selbst giessen, sensibilisieren und gleich nach der Aufnahme entwickeln. Ein zwar umständliches, aber qualitativ sehr gutes Verfahren, das mit dem Buch «Das Kollodium – Handbuch der modernen Nassplatten-Fotografie» von Peter Michels zu einem spannenden Experiment wird. Was es mit dieser Kollodiumfotografie auf sich hat, geht aus unserem Interview mit dem Buchautor hervor.

 

Vor kurzem ist das Buch «Das Kollodium – Handbuch der modernen Nassplatten-Fotografie» von Peter Michels erschienen. Welche Bedeutung hatte dieses Verfahren in der Entwicklung der Fotografie, und worin besteht die Faszination, sich im digitalen Zeitalter mit dieser längst vergessenen Technik zu befassen? David Marquis hat dazu den Buchautor und Fotograf Peter Michels befragt.

 

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David Marquis: Lassen Sie uns von vorne beginnen: Was ist denn überhaupt ein Kollodium?

Peter Michels: Das Kollodium ist in der Fotografie nichts anderes als die Trägerschicht, in der das Silber, letztlich das Bild, eingebettet ist. Kollodium ist eine Verbindung von Nitrozellulose und Ether. Kollodium hat den Wundverband revolutioniert und ist der eigentliche Beginn des Kunststoffzeitalters. Zelluloid und Zellophan sind nur einige Produkte daraus, die wir kennen und auch heute noch anwenden. Die Kollodiumnassplatte machte die Fotografie ausserdem zu dem Massenmedium, wie wir es inzwischen kennen.

 

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Wieso sollte man sich denn angesichts immer leistungsfähigerer Digitalkameras beim Fotografieren noch die Finger schmutzig machen?

Zwei Gegenfragen: Im Zeitalter von Fertigpizzen: Kochen Sie wirklich immer noch selbst? Ich hoffe auch, dass Sie einen Liebesbrief von Hand schreiben, oder? In meinem Buch habe ich beschrieben, wie man es beim Nassplattenfotografieren vermeidet, sich die Finger schmutzig zu machen. Es ist ganz einfach. Ich weiss, es gilt als Kult schwarz befleckte Fotografenhände zu haben. Aber das sind in Wahrheit Verätzungen, das muss nicht sein.

Ich selbst besitze eine 40-Megapixel-Mittelformat-Digitalkamera, und ich mag das Fotografieren mit ihr. Als Künstler und Handwerker wähle ich das Werkzeug passend zur Arbeit. Ausserdem kombiniere ich die Aufnahmetechniken, stelle Negative mithilfe des Druckers her. Ich merke aber, dass ich, seitdem ich wieder mit Labortechniken arbeite, die digitale Kamera viel effizienter einsetze und zielgerichteter fotografiere.

 

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Geht dies nicht viel einfacher mit den immer noch erhältlichen fertig konfektionierten Schwarzweiss-Filmen?

Teufelszeug! (lacht) Das ist eine völlig andere Denk- und Arbeitsweise. Das heutige Schwarzweiss-Material ist ein ganz anderes als in der grossen Zeit der Schwarzweiss-Fotografie. Der heutige Schwarzweiss-Film besteht aus 5 bis 8 g/m² Silberbromid und etwa 0,1 g/m² Silberiodid. Zum Vergleich: Eine Nassplatte besteht aus 25 g Silber/m², dabei besteht ein 60-prozentiger Silberiodidanteil, welcher hauptsächlich für den Kontrast zuständig ist. Tobia Bezzola, der Direktor des Folkwang Museums in Essen, aber auch andere Fotografiekenner seines Ranges, bemängeln die heutige Schwarzweiss-Filmfotografie als zu kontrastarm.

Es gab zwei Gründe von den 1960- bis zu den 1980er-Jahren, das «Silberiodid» aus dem Schwarweiss-Film herauszunehmen. Zum einen waren die Hersteller aufgrund der Silberspekulation – unter anderem die der Gebrüder Hunt – gezwungen, ihre Kosten zu reduzieren, zum anderen musste das hochgiftige Kaliumzyanid aus dem Fixierer genommen werden, um Verkäufe an Fotoamateure, welche zum Gros der Schwarzweiss-Filmanwender gehörten, zu ermöglichen. Irving Penn war, so ein Artikel im Famous Photographer Course von 1964, ein grosser Verfechter des Zyanidfixierers. Heute wirken seine Worte verfehlt, wir haben schon lange andere Ansprüche an Arbeitssicherheit und Ökologie. Obwohl dieser Fixierer auch zur Nassplattenzeit bestimmend war, wird man ihn in meinem Buch nicht finden, jedoch gute Tricks wie man mit heutigen Fixierern den wichtigen Silberiodanteil im Bild klären kann.

Es war mir ein grosses Anliegen, ein Handbuch für den zeitgemässen Gebrauch zu schreiben. Sicher ist es interessant, wenn in historischen Handbüchern von Morphinentwicklern, abgestandenen Bierrezepten und allerlei anderen lustigen Zutaten berichtet wird. Aber bleiben wir realistisch: Gute Fotografie schliesst auch verantwortungsvollen Umgang mit der Umwelt ein!

 

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Wie gross ist die Nassplattenszene?

Es gibt auf Facebook Gruppen mit über 3000 Mitgliedern, wöchentlich steigend. Im deutschen Sprachraum fehlte es bisher an einem zeitgemässen Lehrmittel, vieles musste aus dem Englischen übersetzt werden. Das ist nicht jedermanns Sache. Ich glaube, es ist noch viel Potenzial da. Frankreich, Grossbritannien und die USA sind uns weit voraus.

 

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Wie haben Sie selbst zu dieser Technik gefunden?

Das war Ende der 90er. Ich hatte mich damals ausschliesslich mit der Farbwirkung des Diafilms beschäftigt. Mein damaliger Agent, der legendäre Harry H. Lunn jun., erkannte, dass meine Arbeit in einer technischen und fremdbestimmten Sackgasse steckte. Harry Lunn verstand es, zu inspirieren, und zwar zu Netzwerken. Er brachte mir Bücher und organisierte Treffen mit Künstlern wie McDermott & McGough, die sich schon länger mit historischen Verfahren beschäftigten. Lunns unerwarteter Tod 1998 verhinderte meine Weiterentwicklung als Fotokünstler in New York. Ich kehrte zurück in die Schweiz und traf 2007 im Zürcher Café Odeon einen Fotografen, der am Nebentisch sein Portfolio präsentierte. Ich begann dorthin zu schielen, denn ich war damals schon Kurator der Zürcher Werkschau «photo». Natürlich erhielt ich Einblick in sein Portfolio, wenig später entstand von James Muñoz das im Buch publizierte Porträt. Doch dieser musste aus familiären Gründen bald nach Amerika zurückkehren. Erst 2010 fand ich dann eine Ausschreibung für einen Workshop. Das Geld für die erste Ausrüstung hatte ich von Freunden und Familie zusammengepumpt.

 

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Was hat Sie dazu bewegt, ein Buch über das Kollodium zu schreiben?

Ganz einfach, ich wollte ein Handbuch für meine Workshops machen, das ich gerne selbst beim Start in diese Technik gehabt hätte. Ich glaube, dies ist mir gelungen. Die heutigen Print-on-demand-Technologien erlauben es auch so, ein solches Spezialbuch risikolos herzustellen und auf dem Markt zu bringen.

 

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Wenn ich mir heute Ihr Buch kaufe, könnte ich dann morgen meine erste Nassplatte erstellen?

Das wäre schon mal ein guter Anfang, aber vermutlich geht es Ihnen dann wie mir beim Versuch, Spanisch, Italienisch oder Gälisch aus Büchern zu lernen. Selbst das beste Sprachlehrbuch nützt nichts, wenn man in der Sprache nicht kommunizieren kann. Beim ersten Anwenden der neuen Sprache handelt man sich sicher nur Unverständnis ein. Aber da muss man durch. Ich empfehle, das Buch zu kaufen und dann einen Workshop besuchen. Natürlich kann man sich alles selbst beibringen, aber es ist eben wie beim Lernen einer neuen Sprache: In der Konversation oder bei einem Sprachaufenthalt lernt man am besten. Vielleicht wird man mit den Jahren sogar seinen Akzent los und als Einheimischer akzeptiert … Ich denke aber, das Buch ist didaktisch so konzipiert, dass es ein ständiger Begleiter ist.

 

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Und wie komme ich an eine geeignete Kamera und die notwendigen Chemikalien?

Im Buch stehen alle Hinweise zu Händlern und Tipps fürs Equipment. Die historischen Verfahren sind auf dem Vormarsch, vieles kann man bereits fertig kaufen. Dazu kommt, dass es Foren und Facebook-Gruppen gibt, welche einen regen Austausch pflegen. Es gibt inzwischen spezialisierte Händler, welche für die alternativen Fotoprozesse gut ausgestattet sind. Und zur Not gibt es fast überall Apotheken.

 

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Welche Möglichkeiten habe ich, wenn ich mir nicht gleich eine komplette Ausrüstung anschaffen möchte?

Im Buch und in meinen vielen Workshops beschreibe ich einfache Wege, wie es geht. Viele Anfänger schätzen die Kosten falsch ein und geben eigentlich mehr aus, als sie müssten. Ich habe deshalb ein Kapitel «Einfach beginnen» geschrieben. Eine einfache Boxkamera, eine Dunkelkammer aus Kartonschachteln nach Bauanleitung im Buch und eine Grundausstattung für die Chemie reichen sicher aus. Grosse Ziele erreicht man nur in kleinen Schritten.

Wem empfehlen Sie den Einstieg in die Nassplattenfotografie und wem eher nicht?

Empfehlen kann ich sie allen, die geduldig sind und den Aufwand, ein echtes Handwerk zu erlernen, nicht scheuen. Die Qualität einer Nassplatte wird primär von der handwerklichen und gestalterischen Kompetenz des Machers bestimmt. Und das braucht Zeit.

 

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Wozu verwenden Sie selbst die Nassplattenfotografie?

Als USP, wie Marketingfachleute sagen würden, wobei ich das etwas umgemünzt habe: Unique Special Photographs. Ich mag das Unikat, es ist im Kunsthandel begehrter als Editionen. In meiner Zeit als Kurator habe ich die hoffnungslose Sehnsucht nach dem einzigartigen Bild erlebt. Eine Sehnsucht, die von Fotografen, Kunstverständigen wie auch normalen Besuchern inzwischen gleichermassen geteilt wird. Das Massenmedium Bild braucht ein Limit, damit ihm wieder ein Wert zugeschrieben werden kann. Die Kollodiumfotografie ist kein Heilmittel, aber ein gutes Werkzeug, um Unikate zu schaffen und die persönliche Handschrift einer Fotografin oder eines Fotografen zu bereichern.

Interview und Fotos: David Marquis

 

Michels Kollodium Cover

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Das Buch «Das Kollodium – Handbuch der modernen Nassplatten-Fotografie» von Peter Michels ist im Buchhandel oder online erhältlich.

Bibliografie

Peter Michels
«Das Kollodium – Handbuch der modernen Nassplatten-Fotografie»
248 Farbseiten mit über 400 Abbildungen
Hardcover, gebunden
Format: 17x22cm
Verlag: Fotokultur Media, Tuttlingen
ISBN 978-3-0004-9419-2
Preise: CHF 83.00, D: EUR 69.80, A: EUR 71.20
Direktbestellung beim Verlag: www.fotokultur.media

Weitere Infos zu diesem Buch:

 

 

 

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