Redaktion, 22. Mai 2022, 22:22 Uhr

Mit Leica Technikleiter Stefan Daniel im Gespräch

Anlässlich des Leica Summit anfangs Mai in Bern hatte Fotointern Gelegenheit, den Technikleiter Stefan Daniel über die aktuellen Modelle und Entwicklungen bei Leica zu befragen. Was ist an der M11 wirklich neu, und weshalb hat sie keinen Bildstabilisator? Stimmen die Gerüchte, wonach eine spiegellose S und eine Q3 in Entwicklung sind? Und bleiben die analogen M-Modelle im Sortiment? Spannende Fragen, auf die sie hier die Antworten finden.

Fotointern: Herr Daniel, Sie sind als ‚Executive Vice President Technology & Operations‘ auch verantwortlich für die Produktentwicklung bei Leica. Können Sie uns sagen, wie gross die Entwicklungsabteilung von Leica ist? Wie muss man sich diese vorstellen, und welches ist Ihre Funktion?

Stefan Daniel: Wir haben jetzt etwa 170 Mitarbeiter in Wetzlar und nochmals etwa 15 in unserem Zweitwerk in Portugal. Es ist relativ neu, dass wir dort auch eine Entwicklungsabteilung aufbauen, die sich jedoch vor allem um die Sportoptikprodukte kümmert, also Ferngläser, Entfernungsmesser, Zielfernrohre, Spektive etc. Die Entwicklungsabteilung im Headquarter wurde stark ausgebaut, weil in den letzten Jahren die ganze Elektronikentwicklung und Software hinzugekommen ist, mit Bildverarbeitung, beispielsweise, die immer wichtiger wird. Dann haben wir seit etwa sieben Jahren ein eigenes Design-Center in München, wo heute ein Team von sieben Mitarbeitenden alles, was den Fotobereich betrifft, gestaltet, vom Kameradesign über Zubehöre bis zu grafischen Icons. Ich bin als ‘Executive Vice President Technology & Operations’ für die Entwicklung der Produkte verantwortlich, von der Idee über die Herstellung und das Qualitätsmanagement bis hin zum Kundenservice. Früher war das Produktmanagement im Marketingbereich angesiedelt und die Entwicklung und Fertigung im Technikbereich. Das haben wir nun vereint, damit mit effizienten Entscheidungswegen alles aus einer Hand kommt.

Wie lange dauert etwa die Entwicklungszeit eines neuen Produktes?

Der Entwicklungsprozess ist zweigeteilt. Wir haben einerseits Vorentwicklungen, welche die Technologie betreffen, wie beispielsweise den Prozessor oder den Sensor, welche in verschiedenen Kameras Verwendung finden könnten. Dann kommt die eigentliche Produktentwicklung mit den modellbezogenen Spezifikationen, den Gestaltungsvorgaben bis hin zu den Fabrikationsbedingungen. Das Ganze dauert für ein neues Produkt etwa zweieinhalb bis drei Jahre.

 

Wie kommen Sie zu neuen Ideen für Ihre Produkte?

Das ist sehr unterschiedlich. Erstens beobachten wir natürlich die Markttrends und die neuen Technologien. Dann sind oftmals auch Reaktionen von unseren Kunden, verbunden mit konkreten Wünschen an ein neues Produkt oder eine Weiterentwicklung, spannend für Neuentwicklungen. Ausserdem fliessen natürlich die Ideen unserer Entwickler mit ein, und so entsteht ein Produktekonzept, das dann mit Mockups in ausgewählten Teilnehmerkreisen in verschiedenen Ländern diskutiert wird.

Das jüngste Kind ist ja die M11. Welches war dabei die grösste Knacknuss?

Am Anfang stand die Herausforderung, etwas noch besser zu machen. Als die M10 herauskam, galt sie bei uns als die perfekte M, die nun noch weiter optimiert werden sollte. Aber wie perfektioniert man etwas, von dem man denkt, dass es perfekt ist? An dieser Stelle sind wir immer sehr dankbar für die Inputs von Kunden, von Fotografen, die das Produkt aus ihrer Praxis kennen und uns sagen, was sie sich in der nächsten M wünschen würden. Diese Wünsche haben wir sorgsam zusammengetragen und so sind über 50 Verbesserungen gegenüber der M10 in die M11 eingeflossen.

 

Ein Wunsch könnte ja der Bildstabilisator sein. Weshalb hat die M11 diesen nicht?

Den würde ich mir auch gerne wünschen, aber die Platzverhältnisse setzen hier die Grenze, weil eine der Vorgaben, schon bei der M10, war, dass die Gehäusetiefe der analogen M-Kameras beibehalten werden soll. Denn das macht die Kamera so handlich. Es ist aber nicht ausgeschlossen, dass der Bildstabilisator irgendwann in die M integriert werden könnte, beispielsweise, wenn wir auf den mechanischen Verschluss verzichten würden und so der notwendige Platz wieder zur Verfügung stünde.

Weshalb hat de M11 keine Videofunktion? Auf diese wurde ja schon bei der M10 verzichtet.

Auch das basiert auf einem Kunden-Feedback, von M-Fotografen, die uns Rückmeldung gaben, dass sie die Videofunktion nicht benötigen würden. Hinzu kommt, dass wir damals, bei der Entwicklung der M10, die Videofunktion in der SL stark forcierten, was von jenem Kundensegment sehr geschätzt wurde. Ich hatte bislang aber noch keine Nachfrage zur Videofunktion der M11.

 

Die M11 bietet drei verschiedene Auflösungen, 60, 36 und 18 Megapixel – dies bei einer Kundschaft, die sehr auf Qualität bedacht ist, sowohl bei der Kamera als auch bei der Bildqualität. Wer will da eine reduzierte Auflösung?

Nun, das hat einerseits den Vorteil, dass geringere Datenmengen anfallen, was je nach Aufgabe und Speicherreserve ein Vorteil sein kann. Sinnvoll ist die geringere Auflösung auch, wenn an der M11 ältere Objektive verwendet werden, welche die volle Auflösung des M11-Sensors nicht ausreizen. Zudem kommt, besonders in der 18MP Einstellung, eine noch bessere Lichtempfindlichkeit und Dynamik.

Sie haben zur M11 den elektronischen Zusatzsucher Visoflex vorgestellt. Wäre es denkbar, dass in der nächsten M der doch sehr aufwändige optische Sucher durch eine elektronische Lösung subsituiert würde?

Also M steht für Messsucher – und so lange ich bei Leica noch etwas zu sagen habe, wird die M einen Messucher haben. Denkbar wäre es natürlich, aber wir würden der Leica M das wohl charakteristischste Teil wegnehmen, das vom Grossteil der M-Anwender besonders geschätzt wird.

 

Wäre eine Kombination eines optischen und eines elektronischen Suchers, ähnlich wie Fujifilm das gemacht hat, bei der M möglich?

Das haben wir sehr intensiv geprüft, sind aber dann zum Schluss gekommen, dass eine solche Lösung erstens mehr Platz braucht und zweitens kaum praktische Vorteile bringen würde. Deshalb haben wir uns für das aufsteckbare Zubehör Visoflex entschieden, der zudem für extreme Perspektiven um 90 Grad nach oben gekippt werden kann.

Eine Frage zum Topmodell S: Es geistert eine spiegellose S durch die Gerüchteküche. Was können Sie dazu sagen?

Eine spiegellose S ist eigentlich eine konsequente Weiterentwicklung, und so ist es nicht erstaunlich, dass dazu Spekulationen die Runde machen. Hier der Fakt: Eine spiegellose S ist in Arbeit, aber es ist schwierig, etwas vorauszusagen, was noch weiter in der Zukunft liegt. Es gibt heute so viele Unwegsamkeiten mit der Beschaffung von Materialien, Baugruppen und Elektronikteilen, dass wir derzeit bezüglich der nächsten S noch keine konkrete Aussage zum Zeitpunkt der Markteinführung treffen können.

 

Welche Materialien sind besonders knapp, und wie ist Leica davon betroffen?

Im Grunde ist die Beschaffung aller Materialien unsicher. Das fängt an bei optischem Glas, ein sehr energieintensives Material. Dann sind Metalle sehr teuer oder auch knapp geworden, Magnesium und Aluminium, zum Beispiel, für den Gehäuseguss, und dann natürlich Elektronikkomponenten, um die sich der Markt derzeit reisst. Wir konnten jedoch dank enormem Aufwand grössere Lieferengpässe bisher vermeiden – dies mit Unterstützung eines guten Teams, das in der Beschaffungswelt gut vernetzt ist.

Wie ist es dann mit der Leica Q? Auch da gibt es ja Gerüchte nach einer Version mit einer längeren Brennweite.

Bei der Q2 ist die Situation ähnlich. Wir sind laufend dabei, alle unsere Produktelinien weiter zu entwickeln. Allerdings erfreut sich die Q2 mit ihrer 28mm-Brennweite unverändert grosser Beliebtheit und die Nachfragen nach einer Q mit längerer Brennweite sind Einzelstimmen.

Welchen Stellenwert haben die verschiedenen Kameralinien von Leica im Markt prozentual?

Wir haben wirtschaftlich betrachtet vier Standbeine, das ist die M, dann die Q und schliesslich die S und SL. Den grossen und tragenden Anteil unseres Geschäftes nimmt die M ein – sie ist das Herz von Leica, mit einer langen Tradition seit 1954 und einer hohen Kompatibilität. Die Q hat viel dazu beigetragen, dass Leica ein jüngeres Käufersegment gewonnen hat, mit einer sehr kompakten und trendigen Kamera. Es sind auch oft Anwender, die vielleicht mit einer anderen Kamera fotografieren, aber trotzdem noch eine Q2 als Alltags- oder Zweitkamera besitzen. Das S- und SL-System deckt die höchsten Ansprüche ab, auch bezüglich der Funktionen, wie beispielsweise Video, was im Fotobereich immer wichtiger wird. Wie sich die prozentualen Verhältnisse verhalten, kommunizieren wir nicht.

Dann hat Leica ja noch die M-A und die M-P im Sortiment, als Messsuchermodelle für Film. Wie entwickelt sich dieser Markt?

Das ist eine erfreuliche Überraschung, denn wir können im Moment die hohe Nachfrage gar nicht erfüllen. Wir haben die Produktion so gut wie möglich hochgefahren, was allerdings bei diesem hoch komplexen Produkt mit mehr als 1200 optisch-feinmechanischen Teilen schwierig ist, weil sehr viele Arbeitsschritte rein manuell vorgenommen werden müssen. Die Mitarbeiter, die solche Arbeiten verrichten können, sind meist Spezialisten auf ihrem Gebiet, und es ist nicht einfach, diesen Bereich kurzfristig personell aufzustocken.

Wie hat sich die Leica Sofortbildkamera im Markt entwickelt?

Die Leica Sofort war 2016, als wir sie einführten, für uns ein Experiment. Wir wollten wissen, ob ein so extremes Produkt, das es von anderen Marken ja auch gibt, bei Leica funktioniert. Und – ja, es hat funktioniert. Die Sofort ist weitaus besser im Markt angekommen als wir dachten. Darüber hinaus ist sie in den Leica-Stores auch ein ‘Mitnahmeartikel’ – wenn sich jemand zum Beispiel eine neue M kauft, legt er sich häufig noch eine Sofort zu, vielleicht zum Spass oder um sie zu verschenken.

Und die Monochrom-Kameras Q und M? Wie kam es dazu?

Es war ebenfalls ein Experiment, als wir die M 2012 als Monochrom-Version herausbrachten. Auch intern waren die Meinungen dazu sehr kontrovers, doch hat der Markt sehr schnell positiv reagiert. Mittlerweile sind wir mit der Q Monochrom und der M10 Monochrom in der dritten Generation, und wir werden diese Linie sicher auch weiterverfolgen.

Dann gibt es von Leica ja immer Sonderserien, die von irgendwelchen Künstlern inspiriert und nur in geringer Stückzahl angeboten werden. Ist das ein lohnendes Geschäft?

Durchaus! Nicht nur wirtschaftlich, weil diese Kameras zu einem höheren Preis an Liebhaber verkauft werden können, sondern auch, weil wir damit in Vertriebskanäle kommen, die wir sonst kaum erreichen könnten. Das hat zum Beispiel deutlich die Leica D-Lux 7 Vans x Ray Barbee Edition gezeigt – damit wurde Leica in einem Segment bekannt, für das wir sonst einen enormen kommunikativen Aufwand hätten treiben müssen. Auch sind die Mengen für solche Aktionen bewusst limitiert, so dass kaum ein wirtschaftliches Risiko besteht.

Zusätzlich arbeiten Sie ja immer noch mit Kooperationspartnern zusammen, wie Panasonic, Sharp, Huawei und anderen. Können Sie dazu etwas sagen?

Die Zusammenarbeit mit Panasonic besteht jetzt seit mehr als 20 Jahren, und wir haben sogar vor, dies noch etwas zu intensivieren, hin zu einem Technologieaustausch, nicht zuletzt, weil sich daraus sinnvolle Synergien ergeben und sich unsere Produktportfolios nicht wirklich überschneiden. Eine dieser Synergien ist zum Beispiel der Leica L-Mount mit Panasonic und Sigma, der sich im Markt sehr gut etabliert hat. Die Kooperation mit Sharp ist auf das Leitz-Phone 1 beschränkt, das nur in Japan verkauft wird. Die Kooperation mit Huawei ist sehr erfolgreich verlaufen.

 

Das Produktspektrum von Leica ist ja riesig von Sofortbild- und Kompaktkameras über die M-, S-, SL-, Q-, bis vor kurzem noch APS-Kameras, bis hin zu Sportoptik, Uhren, Smartphones etc. Ist das nicht eine Verzettelung für einen Konzern dieser Grösse?

Die Vergangenheit hat uns gezeigt, dass man nicht alles auf eine Karte setzen soll, und dass ein Wachstum im Foto- und Sportoptikbereich nicht ohne weiteres möglich ist. Das Sortiment ist in der Tat sehr vielfältig, aber wir haben auch für jeden Bereich ein eigenes Management und verschiedene Vertriebsstrukturen und Leica will in vielen Bereichen weiter wachsen.

Zum Schluss noch eine etwas philosophische Frage: Wo steht die Fotografie in fünf oder zehn Jahren? 

Eine schwierige Frage! Für mich steht die Fotografie heute wieder da, wo sie vor der Digitalisierung stand. Wenn man sich die Verkaufszahlen zur analogen Zeit anschaut, dann ist das durchaus vergleichbar mit dem Stand von heute. Dieser ist auch relativ stabil, in dem spiegellosen Vollformat-Segment stark wachsend, das heisst, die damalige Entwicklung mit den digitalen Kompaktkameras ging rasend schnell nach oben und danach wieder ebenso schnell nach unten. Daraus folgt, dass sich die Fotografie an die Fotoenthusiasten und -profis wendet, während sich die Gelegenheitsfotografen, die früher eine Kompaktkamera gekauft hatten, sich heute mit den Foto- und Videofunktionen in den Smartphones begnügen. Und zur Frage der Zukunft: Ich glaube, dass hochwertige Kameras und Objektive auch in Zukunft eine bedeutende Rolle spielen werden, insbesondere für Menschen, welche diese Werkzeuge kreativ einsetzen möchten.

Herr Daniel, besten Dank für dieses Gespräch

Das Interview führten Urs Tillmanns und Markus Zitt
Interview-Porträts von Markus Zitt
Montage- und Produktebilder: Leica Pressefotos.

Kurzbiografie

Stefan Daniel ist seit Oktober 2021 Executive Vice President Technology and Operations der Leica Camera AG. In seiner Funktion bündelt er die Aktivitäten rund um die Produktsegmente Fotografie und Sportoptik und verantwortet die Bereiche Produktmanagement Photo und Sportoptik, Forschung und Entwicklung, Qualitätsmanagement, Einkauf und Supply Chain, die Produktionsstandorte in Deutschland und Portugal sowie den Customer Care.

Stefan Daniel begann seine berufliche Laufbahn mit einer Ausbildung zum Feinmechaniker bei der Ernst Leitz Wetzlar GmbH. Nach verschiedenen In- und Auslandsaufgaben im Leica Customer Care kam er zum Produktmanagement, wo er über viele Jahre in leitender Funktion den Aufbau eines sehr erfolgreichen Produktportfolios entscheidend mitgeprägt hat.

 

The English translation of this article can be found at Leica Barnack Berek Blog

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