Die berühmte amerikanische Architektin Denise Scott Brown hat eine Schweizer Kamera benutzt, um ihre Reiseeindrücke und interessante Architekturbeispiele fotografisch zu dokumentieren. Eine Auswahl aus ihrer bedeutenden Fotosammlung ist nun in einem Bildband erschienen.
Dass man den Namen Denise Scott Brown nicht gleich zuordnen kann, wenn man sich nicht eingehend mit Architekturgeschichte befasst, ist kein Manko. In jenen Kreisen jedoch gehört sie zu den ganz grossen Namen und hat, teils zusammen mit ihrem Mann Robert Venturi, verschiedene renommierte Architekturprojekte realisiert: die Benjamin-Franklin-Gedenkstätte, das Humanities Building and Social Sciences Building der State University of New York oder der Erweiterungsbau der National Gallery in London. Sie war zudem als Theoretikerin und Publizistin tätig und wirkte an mehreren amerikanischen Universitäten als Dozentin. Weniger bekannt ist, dass Denise Scott Brown die Fotografie als wichtiges Medium nutze, sei es als berufliches Notizbuch für ihre Publikationen, aber auch um das Tagesgeschehen festzuhalten oder auch nur aus persönlichen Interessen. Nun kommen ihre Fotografien als Bildband ans Licht und zeigen eine Fähigkeit dieser grossen Architektin, die bisher in der breiten Öffentlichkeit wenig bekannt war.
Das Buch ist nicht etwa eine Dokumentation ihrer oder fremder Architekturen (bis auf zwei Kapitel, die gänzlich der Architekturfotografe gewidmet sind), sondern es hat vielmehr ihre persönlichen Seheindrücke in ihrer urbanen und natürlichen Umwelt zum Thema, zeigt einfache Objekte, die sie wohl für ihre persönliche Erinnerung fotografierte, zeigt Landschaften, die immer durch irgendeine Besonderheit auffallen, oder Strassenszenen, welches das Leben und den bürgerlichen Alltag zeigen. Es ist aber beispielsweise auch ihr persönliches Reisetagebuch mit Impressionen von Johannesburg nach London und durch Europa, zurück nach Südafrika, über den Atlantik nach Philadelphia und schliesslich quer durch die Vereinigten Staaten nach Kalifornien und Las Vegas. Besonders mit den letzteren sollte sie berühmt werden, nachdem viele der Bilder in ihrem einflussreichen Buch der Architekturtheorie «Learning from Las Vegas» erschienen waren. Scott Browns Bilder sind aber auch insofern sozialgeschichtliche Dokumente, weil sie alle in den 1950-er bis 1970-er Jahren entstanden waren, einer Epoche der Umwälzung und Neuorientierung, die für das fotografische Schaffen von Denise Scott Brown die aktivste war.
Das Buch ist in sich überschneidende Themen gegliedert, um die Bilder über Raum und Zeit hinweg zu verbinden. Dabei lassen sich ihre persönlichen und beruflichen Beweggründe und Interessen kaum eindeutig unterscheiden. In «Fleeting Moments» (Flüchtige Momente) werden alltägliche Begegnungen zwischen Menschen untersucht, die Scott Brown faszinierten. Weiter geht es mit «In Motion» (In Bewegung), wo viele ihrer Fotografien zusammengefasst werden, die Scott Brown aus Autos, Bussen, Schiffen, Zügen und Flugzeugen aufgenommen hat. Das nächste Thema, Philadelphia, bietet ein intimes Porträt jener Stadt, in der Scott Brown sich schliesslich niederliess als sich diese inmitten der Deindustrialisierung und Stadterneuerung befand. «Ordinary Architectures» und «Extraordinary Architectures» sind jene Kapitel, die sich direkt mit Architekturfotografie befassen und für Scott Browns als visuelle Erinnerungen und Anschauungsmaterial für Ihre Vorlesungen und Publikationen von Nutzen gewesen sein dürften.
Aufschlussreich zu lesen, um die Fotografien von Denise Scott Brown einzuordnen, sind die Erklärungen und Essays des Architekturkritikers, Historikers und Designers Izzy Kornblatt, der als Redakteur der Zeitschrift «Architectural Record» und Autor mehrerer Fachbücher bekannt ist. Er berücksichtigt in seinen (englischen) Texten sowohl die architektonischen als auch die fotografischen Aspekte, was die Abhandlungen für die Leserinnen und Leser beider Interessegruppen interessant macht.
Für wen ist dieses Buch? Wohl das grösste Interesse dafür dürften Leserinnen und Leser aufbringen, die sich für die Person von Denise Scott Brown oder für Architekturgeschichte aufbringen. Für sie sind nicht nur die fotografischen Impressionen interessant, sondern vor allem auch die dazugehörenden Texte von Izzy Kornblatt. Weiter ist die Fotosammlung von Scott Brown für all jene faszinierend, die an Bildern und am Sozialleben der 1950er- bis 1970er-Jahre interessiert sind – dies aus der Perspektive einer Architektin, die man bislang als Fotografin kaum gekannt hatte.
Urs Tillmanns
In diesem Selbstporträt erkennt man Denise Scott Brown mit einer Alpa, einer Schweizer Spiegelreflexkamera, die heute selten geworden ist
Buchbeschreibung des Verlages
Für Denise Scott Brown, die zu den bedeutendsten Architektinnen der Nachkriegszeit zählt, ist die Fotografie seit langem ein wichtiges Medium, um die Welt, in der Designer arbeiten, wahrzunehmen, zu dokumentieren und darüber nachzudenken. Fasziniert vom Vergänglichem und Alltäglichem, fotografierte Scott Brown aus Spass, zu Forschungs- und Lehrzwecken und später als Bestandteil von Design- und Planungsprojekten. Durch das Objektiv ihrer Alpa-Kamera versuchte sie, die Komplexität des Lebens um sie herum zu durchdringen – und ein Plädoyer für die Rolle des Architekten und Planers beim Eingreifen in dieses Leben zu halten.
Encounters präsentiert zum ersten Mal eine essentielle Sammlung von Scott Browns Fotografien aus den 1950er bis 1970er Jahren; die prägenden Jahrzehnte, in denen Scott Brown ihre Heimat Johannesburg verliess, um in London zu studieren, durch Europa reiste, in die USA zog, ein tiefes Interesse an der Nachkriegsvorstadt entwickelte (aus dem die bahnbrechende Publikation «Learning from Las Vegas» hervorging) und mit ihrem Mann Robert Venturi zusammenarbeitete.
Encounters, das sich thematisch und nicht sequentiell durch Scott Browns fotografisches Werk bewegt, eröffnet neue Wege, dieses Werk zu lesen, indem es weniger als fortlaufende historische Aufzeichnung, sondern vielmehr als das Produkt einer sorgfältigen und studierten Beobachtungspraxis präsentiert. Ausgewählt in Zusammenarbeit zwischen Denise Scott Brown und Izzy Kornblatt und begleitet von einem Essay über Scott Browns Konzeption des Gewöhnlichen, bietet diese Sammlung von Fotografien ein Fenster in Denkweisen, die weiterhin strukturieren, wie Designer die Welt um sie herum wahrnehmen.
Der Inhalt
Introduction by lzzy Kornblatt
Fleeting Moments
In Transit
Philadelphia
In Search of the Ordinary by lzzy Kornblatt
Ordinary Architectures
Extraordinary Architectures
The Grand Tour
Fleeting Moments
Las Vegas
Picturesques
Photograph Captions
Denise Scott Brown Biography
Acknowledgements, Imprint
Biografien
Denise Scott Brown (*1931 in Nordrhodesien) ist eine bedeutende Vertreterin der postmodernen Architektur und gehört zu den einflussreichsten Architekten des 20. Jahrhunderts. Sie studierte zwischen 1948 und 1952 an der Witwatersrand-Universität in Johannesburg, setzte danach ihre Ausbildung an der Architectural Association School of Architecture fort und schloss drei Jahre später das Studium mit einem Diplom in Architektur ab. Nach einem weiteren Studium an der University of Pennsylvania machte sie 1960 ihren Master in Stadtplanung und wurde Dozentin an verschiedenen amerikanischen Universitäten. 1967 heiratete sie den Architekten Robert Venturi und eröffnete zusammen mit seinem Partner John Rauch in Philadelphia das Architekturbüro Venturi, Rauch & Scott Brown, welches zahlreiche renommierte Architekturprojekte realisierte. Mit mehreren Büchern hat das Ehepaar Robert Venturi und Denise Scott Brown das Denken und die Sichtweise auf Architektur mitverändert und einen wesentlichen Beitrag zur Architekturtheorie geleistet. Die 93-jährige lebt heute in Philadelphia.
Izzy Kornblatt (*1993) ist Kritiker, Historiker und Designer und lebt in New Haven, Connecticut. Er ist Redakteur der Zeitschrift «Architectural Record», Autor mehrerer Fachbücher und hat diverse unabhängige Designprojekte und Ausstellungen realisiert. Geboren in Massachusetts, studierte er am Swarthmore College, an der National Taiwan University und an der Harvard Graduate School of Design. Derzeit promoviert er an der Yale University in Geschichte und Theorie der Architektur.
Bibliografie
Encounters: Denise Scott Brown Photographs
434 Seiten (inkl. 8 Ausklappseiten) mit 383 Abbildungen, Fadenbindung, Mid-Hardcover, Format 250 x 177 x 35 mm, 2025
Sprache: Englisch
Texte: Izzy Kornblatt
Verlag: Lars Müller Publishers, Zürich
Preis: CHF 60.00
ISBN 978-3-03778-794-6, English
Das Buch kann im Buchhandel erworben oder direkt beim Verlag bestellt werden.
Welche Alpa hat sie denn benutzt und ist mit dessen Objektiv das von Kern Aarau gemeint, dessen Schärfebereich mit goldenen Punkten angezeigt wurde?
Das lässt sich leider auf dem Foto nicht besser erkennen. Ich vermute, es ist eine Kamera aus den Modellreihen 5 oder 6 in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre. Das Switar „mit den goldenen Punkten“ kam m.W. erst Mitte der 1960er-Jahre.