Urs Tillmanns, 29. März 2014, 07:00 Uhr

Buchtipp: «Andrea Garbald – Fotograf und Künstler im Bergell»

Zur Zeit ist im Kunstmuseum Chur eine umfassende Ausstellung über den Bergeller Fotografen Andrea Garbald zu sehen. Hier ist das Buch dazu. Es erzählt die Geschichte eines talentierten aber ebenso verkannten Fotografen, der nicht über die Grenzen seines Bergells hinaus kam und dessen Bilder auf einem Dachboden in Vergessenheit gerieten. Erst heute erkennen wir den Stellenwert seines Schaffens.

 

Das Buch ist ebenso aussergewöhnlich wie der Fotograf – und die Geschichte, wie seine Bilder nun der Nachwelt erhalten bleiben: Andrea Garbald war als Sohn des Zolleinnehmers Agostino Garbald in Castasegna, dem Grenzdorf zu Italien zuunterst im Bergell, aufgewachsen. Es war eine vermögende Familie, die sich vom deutschen Stararchitekten Gottfried Semper eine Villa in Castasegna erbauen liess, und es sich leisten konnte, den 19jährigen Andrea für ein Studium bei Professor Johannes Barbieri ans Polytechnikum (späteres Photographisches Institut der ETH) nach Zürich zu schicken, dem ein Praktikum bei Rudolf Ganz folgte, einer der besten Porträtfotografen der Stadt. Andrea Garbald verfügte damit über ein sehr gutes theoretisches Wissen, kannte die damals modernsten Geräte, und er hatte auch das praktische Arbeiten bei einem hervorragenden Porträtfotografen erlernt. Zudem verfolgte er intensiv, was in Fachzeitschriften über die Arbeitsmethoden und die stilistischen Trends berichtet wurde, wobei ihn besonders der aufstrebende Piktorialismus begeistert haben muss. Mit diesem fundierten Rüstzeug kehrte er nach Castasegna zurück – danach hat er sein geliebtes Bergell nie mehr verlassen.

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Er hat dort das erste Fotoatelier des Bergells eingerichtet (Seite 12 im Buch) und verdiente seinen Lebensunterhalt damit, was die Leute eben von ihm wollten: Cartes-de-visites, Porträts, Kinderfotos, Hochzeitsbilder, Gruppenaufnahmen … Daneben pflegte er auch seine kreative Ader weiter und fotografierte leidenschaftlich Landschaften und Stilleben im damaligen Stil der Piktorialisten. Berühmt wurde er nie damit, denn kaum jemand hat seine Bilder aus dem Bündnertal in Welt hinaus getragen, und schliesslich endete sein Leben in dramatischer Einsamkeit, in welcher Garbald als Persönlichkeit ebenso verkam, wie sein Atelier und die «Villa Semper».

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Die Geschichte fasziniert, und sie ist in diesem Buch nach einer akribischen Recherche von Beat Stutzer, dem damaligen Direktor des Bündner Kunstmuseum Chur, ebenso lückenlos wie spannend geschildert. Es zeigt nicht nur die interessante Lebensgeschichte des einzigen sesshaften Bergeller Fotografen auf und gibt uns einen guten Einblick in dessen Familiengeschichte, sondern es positioniert das Schaffen Garbalds auch in der Stilepoche jener Zeit.

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Der Erhalt des Nachlasses von Andrea Garbald verdanken wir vor allem dem Fotografen und Künstler Hans Danuser. Danuser lebte 1958 für einige Monate in einer Wohnung in der Villa Semper, ohne die Geschichte von Andrea Garbald und sein fotografisches Werk zu kennen. Dabei stiess er per Zufall auf dem Dachboden auf zahlreiche Glasplatten, Celluloidnegative, Bücher, Zeitschriften sowie fotografische und optische Geräte. Darunter fand er das einzige schon damals bekannte Bild von Garbald, welches die Familie Giacometti zeigt (Buch Seite 103) und oft in Giacometti-Biografien abgebildet wurde, ohne den Namen des Fotografen zu erwähnen. Damit war die Initialzündung für die «Stiftung Garbald» gegeben, die sich um die sorgsame Aufarbeitung des Nachlasses von rund 800 Glasplatten und diversen Dokumenten kümmerte und das Material zuerst ins Depot des Staatsarchivs Graubünden übergab, bis es schliesslich seinen endgültigen Platz in Bündner Kunstmuseum fand.

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Das Buch bringt nun diese auf einem Dachboden vergessenen Bilder zurück ins Bewusstsein der Schweizer Fotogeschichte und begleitet eine sehr sehenswerte Ausstellung, die noch bis 11. Mai 2014 im Kunstmuseum Chur zu besuchen ist. Sehenswert ist die Ausstellung auch deshalb, weil nach dem Konzept von Hans Danuser und Stephan Kunz ausschliesslich Originale gezeigt werden, darunter auch die unikaten Glasplatten, die zum Teil in der Projektion zu bewundern sind.

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Das Buch selbst ist eine Augenweide, nicht nur auf Grund der Bildauswahl, welche das Schaffen von Andrea Garbald repräsentativ wiedergibt, sondern auch durch die qualitativ bestechende Druckwiedergabe und die herausragende grafische Gestaltung. Man hat wirklich den Eindruck, die damaligen Tonungstechniken und den reichen Tonwertumfang der Fotos im Original zu sehen, und es darf lobend erwähnt werden, dass die Bilder auf den Doppelseiten so angeordnet sind, dass keine bildwichtigen Teile im Bund verschwinden – ein leider häufiger Gestaltungsfehler bei vielen Bildbänden.

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Hans Danuser, Stephan Kunz und Beat Stutzer haben uns zusammen mit dem Verlag Scheidegger und Spiess zu einem prachtvollen Bildband verholfen, der nicht nur das Schaffen eines in Vergessenheit geratenen Talfotografen in Erinnerung ruft, sondern die Schweizer Fotogeschichte um einen wichtigen Namen reicher macht: Andrea Garbald.

Urs Tillmanns

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Buchbeschreibung des Verlages

Als erster Berufsfotograf des Bergells wurde Andrea Garbald auch zum Chronisten des Tals. Dieses Buch präsentiert seine wunderbaren Fotografien und Zeitdokumente zum ersten Mal umfassend.

Eine von Andrea Garbalds Fotografien machte Weltkarriere: das Gruppenbild mit der vollständig versammelten Künstlerfamilie Giacometti. Doch ihr Urheber wurde häufig nicht zur Kenntnis genommen. Als Künstlerfotograf wurde er von seinem Umfeld nicht verstanden, vereinsamte gegen Ende seines Lebens und nach dem Tod geriet sein Schaffen in Vergessenheit.

Dieses Buch zeigt sein aussergewöhnliches fotografisches Werk, erzählt aus seinem Leben und damit auch aus der Geschichte des Bergells. Denn Andrea Garbald verbrachte abgesehen von der Lehre und einem Praktikum in Zürich sein Leben in der elterlichen, von Gottfried Semper erbauten Villa in Castasegna. Von dort aus hielt er Landschaft und Menschen, Ereignisse und Bräuche eindringlich und über einen langen Zeitraum fest. Ein Beispiel für historische Fotografie zwischen künstlerischem Anspruch und akribischer Dokumentation.

Das Buch erschien zur Ausstellungen im Bündner Kunstmuseum Chur (15. Februar bis 11. Mai 2014) und der Ciäsa Granda in Stampa (1. Juni bis 20. Oktober 2014).

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Der Inhalt

• Vorwort

• Andrea Garbald

• Die Familie Garbald in Gottfried Sempers Villa

• Piktorialistische Kunststücke

• Bilder von Bergen und vom Tal

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• Weltkarriere einer Fotografie

• Margherita Garbald: Kunstgewerbe und Mode

• Von der Carte de visite zum wahren Bildnis

• Hochzeitspaare, Familien und Kinder

• Chronist des lokalen Lebens: Gruppenbilder

• Tiere und Stillleben

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• Selbstdarstellungen

• Der Fotograf als Künstler

• Ein Gespräch zwischen Stephan Kunz und Hans Danuser

• Zu den Abbildungen

• Literatur

• Dank

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Autoren und Herausgeber

Hans Danuser
(*1953, Chur), Fotograf und Künstler. Zahlreiche Ausstellungen im In- und Ausland sowie Auszeichnungen. 2009/10 Gastprofessor an der ETH Zürich. 2010/11 assoziierter Fellow am Collegium Helveticum im Bereich Kunst und Fotografie.

Stephan Kunz
(*1962), seit Herbst 2011 Direktor am Bündner Kunstmuseum Chur. Davor langjähriger Kurator und stellvertretender Direktor des Aargauer Kunsthauses Aarau.

Beat Stutzer
(*1950, Altdorf), seit 2004 Präsident der Eidgenössischen Kommission der Gottfried Keller-Stiftung. Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Ethnologie an der Universität Basel. 1982–2011 Direktor Bündner Kunstmuseum Chur und seit 1998 Konservator des Segantini Museums St. Moritz.

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Titelinformation

Beat Stutzer: «Andrea Garbald
Mit einem Gespräch zwischen Stephan Kunz und Hans Danuser.
Herausgegeben von der Fondazione Garbald und dem Bündner Kunstmuseum Chur
1. Auflage, 2014
Text Deutsch und Italienisch
Gebunden mit Schutzumschlag, 24 x 29 cm
208 Seiten, 91 farbige und 89 sw Abbildungen
ISBN 978-3-85881-417-3
Verlag: Scheidegger & Spiess
Preis: CHF 69.00, EUR 58.00

Das Buch kann hier online bestellt werden.

 

 

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