Monica Boirar, 20. November 2016, 12:48 Uhr

Mit Sabine Weiss im Gespräch

Sie gilt als die grosse Dame der humanistischen Fotografie; Sabine Weiss, 92-jährig, hat ein fulminantes Lebenswerk geschaffen. Das Museum Bellpark in Kriens zeigt 130 beeindruckende Bilder vornehmlich in Schwarzweiss. Fotointern war beim Künstlergespräch vom Samstag 19. November 2016 dabei.

 

Sie sei keine Künstlerin, sagte Sabine Weiss, vom Moderator, Marco Meier, dem ehemaligen Chefredaktor des Kulturmagazins «DU» anlässlich des Gesprächs im Museum Bellpark in Kriens auf ihre Rolle hin angesprochen. Mit Vehemenz verteidigte die Walliserin aus Paris ihren Status als «artisane», als Kunsthandwerkerin. Sie habe Auftragsfotografien und freie Arbeiten gemacht, die Vergrösserungen nach deren Verwendung in Zeitungen und Magazinen wie Time, Life und Vogue in Schachteln abgelegt und diese wiederum im Kasten gestapelt.

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Foto: Urs Tillmanns / Fotointern.ch

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Mit dem Bedeutungswandel der Abzüge durch den Kunstmarkt seien die Fotografien ohne ihr Dazutun zu Vintage-Prints mutiert. Deren enorme Wertsteigerung habe dazu geführt, dass für die aktuellen Ausstellungen von den Negativen jeweils neue Barytvergrösserungen erstellt wurden. Manchmal seien diese im Fotolabor genau nach den Originalvorlagen angefertigt, teilweise aber auch anders, ja sogar besser interpretiert worden als die früheren Abzüge.

 

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Mit Sabine Weiss im Gespräch: (v.l.n.r.) Hilar Stadler, Direktor des Museum Bellpark, Virgine Chardin, Kuratorin von Jeu de Paume, Sabine Weiss, Fotografin, und Marco Meier, ehemaliger Chefredaktor des Kulturmagazins «DU».

Im Verlauf der letzten 60 Jahre hat Sabine Weiss weltweit annähernd 160 monografische Einzelausstellungen (siehe Liste) realisiert, viele davon in sehr renommierten Häusern, und an 70 Gruppenausstellungen teilgenommen; in 25 öffentlichen Sammlungen ist sie mit ihren Arbeiten vertreten: ein  aussergewöhnlicher Leistungsausweis. Die Fotografien haben eine hohe künstlerische Qualität, auch wenn die Urheberin sich nur als Kunsthandwerkerin definieren will.

 

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Impressionen von Sabine Weiss bei ihrer Arbeit – nach ausgestellten Originalen im Museum Bellpark (© Sabine Weiss)

Es erstaunt nicht, dass die Berufsfotografin in Frankreich schon lange als Shootingstar gefeiert wird und zahlreiche Auszeichnungen erhalten hat, 1987 den «Chevalier des arts et des lettres», 1999 die höchste Ehrung den «Officier des arts et des lettres». Im deutschsprachigen Raum ist sie einem breiten Publikum jedoch eher wenig bekannt.

Menschen, grosse Künstler und kleine Leute, Kinder, Verliebte, Reiche und Arme, Gesichter und Reisebegegnungen stehen im Zentrum ihres Schaffens. Durchdachte Inszenierungen und wunderbare Schnappschüsse von Strassenszenen, Reportagen, aber auch Mode- und Sachfotografien umfassen die Schaffensgebiete der vielseitigen Fotografin. Die Gesten, Haltungen und Objekte, die flüchtigen Momente wollte Weiss als Zeugnisse unseres Daseins festhalten, das Vergängliche einfangen und tat dies in besonders sensibler und empathischer Weise. Oftmals belegen die visuellen Begegnungen auch ihre humorvolle Seite.

 

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© Sabine Weiss, «Rome», 1957

Die schwierige Aufgabe der Kuratorin Virgine Chardin, aus dem umfassenden Lebenswerk von Sabine Weiss für das «Jeu de Paume» in Tours eine neue Ausstellung zusammenzustellen, sei kaum zu bewältigen gewesen, erzählte diese dem zahlreich erschienenen Publikum anlässlich des Künstlergesprächs im Bellpark. Für das Krienser Museum war es wohl ein Glücksfall, ebendiese Ausstellung, die vom Juni bis im Oktober 2016 in Paris gezeigt worden war, übernehmen zu können. Für das Sichten des gesamten Werks, den vielen Negativen, Kontaktkopien, Abzügen, Alben, Ordnern und weiteren Dossiers hätte sie drei Jahre gebraucht, meinte Chardin. So habe sie denn entschieden, sich auf die Arbeiten der 1950er und 1960er Jahre zu konzentrieren. Das Thema Menschlichkeit war unmittelbar nach dem Krieg omnipräsent. Sabine Weiss war in der legendären, von Edward Steichen kuratierten Ausstellung «The Family of Man» mit einer Handvoll ihrer Fotografien vertreten. In einer Glasvitrine finden sich dazu historische Originalfotografien einzelner Stationen der Wanderausstellung.

 

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Auch Presseausweise, Publikationen in Zeitschriften, das ausgezeichnete Lehrabschlusszeugnis, das der Genfer Fotograf und Lehrmeister Paul Boissonnas 1945 für sie ausgestellt hatte, private Fotos und weitere historische Dokumente erlauben einen intimen, noch nie gezeigten Einblick in das Leben und die Lebensspuren von Sabine Weiss. Winzige Fotos aus dem Jahr 1935 sind das Resultat ihres ersten, selbst entwickelten Films. Das Familienfoto aus dem Jahr 1965 zeigt den Mann Ihres Lebens, den amerikanischen Künstler Hugh Weiss, den sie 1949 kennen und lieben gelernt und 1950 geheiratet hatte mit der Siamkatze Aisha auf der Schulter und die Fotografin selbst mit ihrer einjährigen Tochter Marion im Arm.

Seit 1995 ist Sabine Weiss, geboren 1924 in der Walliser Grenzgemeinde Saint-Gingolph am Genfersee, französische Staatsbürgerin. Mit ihrer humanistischen Bildsprache hatte die bescheiden gebliebene Lichtbildnerin einen grossen Einfluss auf die französische Fotografie. Einige ihrer Bilder haben sich besonders eingeprägt.

 

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© Sabine Weiss «Springendes Pferd», Porte de Vanves, Paris, 1952

Das Pferd ohne Schwanz, mitten im Sprung, förmlich in der Luft schwebend aus dem Jahr 1952, das Porträt eines Ägyptermädchens im Halbprofil mit strahlendem Lächeln, entstanden 1983, das auch als Cover eines ihrer Bücher verwendet wurde.

 

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© Sabine Weiss, «La petite Egyptienne», 1983

Der rennende Mann mit dem langen Schatten, die Bilder mit stimmungsvollem Licht und ausgeprägten Helldunkel-Kontrasten der Pariser Strassen, die vielen spielenden, springenden, hüpfenden Kinder, die inszenierten Künstlerporträts mit Persönlichkeiten wie Brigitte Bardot, Alberto Giacometti oder Françoise Sagan 1954, anlässlich ihres ersten Romans «Bonjour tristesse».

 

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Die Ausstellung im Bellpark ist in verschiedene Themen gegliedert. Hier eine Bildreihe von Aufnahmen aus dem New York der 1950er-Jahre …

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… und hier wenig gesehene Porträts, mit dem Insert von Ella Fitzgerald und Charlie Parker

Im perfekt gedruckten Katalog zur Ausstellung gibt eine Kontaktkopie der Mittelformat-Negative interessante Informationen zur Entstehungsgeschichte der herausragenden Porträtfotografie von Françoise Sagan preis. Zu Beginn der Fotosession sitzt die Schriftstellerin einfach so posierend vor ihrer Schreibmaschine in diversen Haltungen und Variationen abgelichtet, dann wird als Hintergrund der Kamin einbezogen und erst auf den letzten beiden Bildern mit den Nummern 14 und 15 liegt Sagan schliesslich auf dem Teppich vor dem Sofa, das Gesicht in die linke Hand gestützt, den Mittelfinger der rechten Hand nonchalant auf eine Taste der vor ihr liegenden Schreibmaschine gelegt.

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Ihr koketter Blick in die Kamera mit dem schönen Seitenlicht, das ihr Gesicht vorteilhaft modelliert, erscheint als das Resultat eines geheimnisvollen Einvernehmens der beiden Frauen vor und hinter der Kamera. Die Haltung, Gestik und Mimik geben die Persönlichkeit der Autorin in vortrefflicher Weise wieder. Die der Aufnahme vorangegangene Kommunikation zwischen den beiden Frauen, die zur Erfindung ebendieser Inszenierung geführt hatte, lässt sich nur erahnen.

Angesichts der aussergewöhnlichen Qualität vieler Bilder, stellt sich unweigerlich die Frage, weshalb Sabine Weiss nicht Mitglied der Gruppe «Magnum» geworden ist. Im Künstlergespräch gibt sie die erklärende Geschichte preis. Sie habe den Auftrag erhalten, eine Reportage über behinderte Menschen zu realisieren und es seien ihr viele Bilder gelungen. Magnum habe sich dann allerdings nur für die Fotos der Ärzte interessiert. So sei die Zusammenarbeit gescheitert.

 

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© Sabine Weiss, «Terrain vague, Porte de Saint-Cloud», Paris, 1950
 

Der bekannte Pariser Fotograf Robert Doisneau, der ihr Talent unschwer erkannte, empfahl sie als Mitglied der Agentur «Rapho», in der sie sogleich aufgenommen wurde und mit Magazinen mehrjährige Verträge aushandeln konnte. Von ihrer Assistentin, Laure Augustins, einer ehemaligen Mitarbeiterin von Rapho, die seit drei Jahren ausschliesslich für Sabine Weiss arbeitet, hat Fotointern.ch exklusiv erfahren, dass eine sehr gute Lösung zur Betreuung des zukünftigen Nachlasses von Sabine Weiss bereits gefunden werden konnte, doch gäbe es dazu derzeit noch keine Details.

Die Fotografin ist trotz ihres hohen Alters mental sehr fit. Es ist zu hoffen, dass sie noch viele Jahre ihren Erfolg ebenso geniessen kann, wie die geplante Wanderausstellung in Japan und die nächste mit ihren Farbfotografien. Die Realisierung sei allerdings mit grossem Aufwand verbunden, erzählt Chardin, die Dias seien teilweise ausgebleicht, die Rekonstruktion der Farben für eine stimmige Wiedergabe brauche Zeit.

 

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© Sabine Weiss, «Grèce»,  1960

Fotografieren möchte Sabine Weiss heutzutage nicht mehr, es sei zu einfach geworden, sagt sie. Die Frage, was denn ihr Mann, der Künstler Hugh Weiss, mit dem die Fotografin 58 Jahre glücklich verheiratet gewesen war, über die Fotografie dachte, beantwortete der Moderator Marco Meier gleich selber. Er erinnerte sich an seine Aussage aus einem der zahlreichen Filme über Sabine Weiss. Die Fotografie, das sei etwas, das von aussen nach innen gelange und die Malerei umgekehrt, von innen nach aussen.

Die besonders herzliche Persönlichkeit von Sabine Weiss ist in ihren Fotografien spürbar und die Liebe zur Komposition und zu den Menschen sichtbar.

Monica Boirar

 Die Ausstellung ist noch bis 5. März 2017 im Museum Bellpark in Kriens zu sehen

Viele interessante Informationen zum Werk und zur Biografie der Fotografin finden sich auf der persönlichen Webseite von Sabine Weiss

 

Der Katalog

Sabine Weiss

sabine_weiss_buchtitel_500Herausgegeben anlässlich der Ausstellung «Sabine Weiss» im Jeu de Paume, Paris, mit Beiträgen von Marta Gili und Virgine Chardin
192 Seiten, 151 Fotografien davon 12 in Farbe 29 x 23 cm
Text Französisch/Englisch
Edition de la Martinière
1. Auflage 2016
ISBN 978-2-7424-8007-7
Preis CHF 48.00
Erhältlich im Buchhandel oder im Shop des Museums Bellpark
 

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