Urs Tillmanns, 11. Juni 2017, 10:00 Uhr

Eine Insel, eine Kamera, ein Objektiv

Die alte Gretchenfrage: Sie gehen auf eine Insel und können nur eine Kamera mit einem Objektiv mitnehmen. Wofür entscheiden Sie sich? Die Insel: Santorini. Die Dauer: eine Woche. Die Kamera: die neue Leica M10. Das Objektiv: das Leica Summilux-M 1:1,4/28mm Asph. Das Ergebnis: ein Erfahrungsbericht.

 

Einerseits war die Aufgabe mit der entsprechenden Einschränkung selbst auferlegt, anderseits drängte sich eine persönliche Erfahrung mit der neuen Leica M10 schon lange auf. Und dann die alles entscheidende Frage nach dem Objektiv. Meine natürliche Vorliebe liegt bei Weitwinkel-Brennweiten – je weitwinkliger, desto besser. Das erlaubt spannende Perspektiven, grossräumige Übersichten ohne irgendwelche Stitching-Tricks und einen fast unendlichen Schärfentieferaum. Da sagte sich das neue Summilux-M 1,4/28mm Asph an, das einerseits meiner Weitwinkel-Vorliebe schon ordentlich entspricht und anderseits mit der Lichtstärke 1:1,4 ideal ist, um die Stärken der Leica M10 bei spärlichen Lichtverhältnissen auszukosten.

 

Santorini im Fokus …

Die vulkanische Mittelmeerinsel mit den dunklen Felsen und den schneeweissen Häusern war mir nicht unbekannt. Schon vor zwei Jahren hatte ich dort einen Fotoworkshop begleitet und für diese motivreiche Insel eine Schwäche entdeckt. Verlockend nun die Idee, mit Peter Schärer, der solche Kurse seit 20 Jahren auf Santorini durchführt, die Insel während einer Woche zu durchstreifen um neue Locations für künftige Workshops zu finden. Die Jahreszeit war dazu ideal. Es war noch nicht allzu heiss, und der Touristenstrom hatte noch nicht wirklich eingesetzt – obwohl dieses Jahr viele Besucher erwartet werden, die früher in der Türkei ihren Urlaub verbrachten. Und der Himmel war die ganze Woche über so blau, wie die Streifen auf der griechischen Flagge.

 

 

Das Archipel – dessen Ursprung auf 200’000 Jahre zurückgeht, die von unzähligen Vulkanausbrüchen geprägt waren – besteht heute aus den drei Inseln Thira, Thirasia und Aspronisi, sowie der Kraterinsel Nea Kameni, auf welcher man die Vulkanaktivität bedrohlich erleben kann. Wir hatten uns dieses Jahr auf die Hauptinsel Thira konzentriert, die mit dem Hauptort Firá und den Städtchen Oía, Pýrgoas, Akrotiri und Kamari unendlich viele Motive bietet. Im Süden erhebt sich das «Profitis Ilias»-Massiv mit der höchsten Erhebung von 567 Meter. Ehemals gab es dort ein Kloster, heute hat die Armee den Berg mit einem Beobachtungsposten in Beschlag genommen.

 

 

Charakteristisch für Santorini sind die schneeweissen Häuser mit ihren runden Dächern. Sie sind alle mehr oder weniger im gleichen Stil erbaut, und beschränken sich auf zwei Stockwerke – wegen dem Erdbebenrisiko. Einige sind recht bescheiden gestaltet, andere präsentieren sich als grosszügige Villen und Rückzugsorte vermögender Athener. Da und dort sieht man Baugerippe in der Landschaft, die wegen Geldmangel schon wieder zu zerfallen drohen. Alles in allem aber herrscht eine auffallende architektonische Einheit, keine Extravaganz, welche das natürliche Landschaftsbild stören würde.

 

Die Landschaft, mal liebliche Hügelzüge und einladende Badestrände, mal zerklüftete und steil abfallende Bimsteinfelsen, bietet eine unbeschreibliche Vielfalt, nicht nur an Fotomotiven, sondern auch zum Wandern und Geniessen. Nur schattenspende Bäume gibt es wenige – wie überall in Griechenland.

 

Die unendliche Weite der Landschaft Santorinis bei Pýrgos, die sich am Meereshorizont verliert, ist ein lohnendes Motiv. Der grosse Dynamikumfang des Sensors der Leica M10 meistert auch dieses kontrastreiche Motiv brillant

 

Leica M10 im Fokus …

Vergessen Sie alles, was Sie über moderne Kameras wissen, über Programmautomatik, Autofokus, Stabilisator, Motivprogramme, Gesichterkennung und anderes, was man zum Fotografieren eh nicht wirklich braucht. Die Leica M10 ist «Fotografie pur» mit manuellen Einstellungen von Verschlusszeit, Blende, ISO-Wert und Fokussierung. Mehr braucht es nicht, wenn man sich für seine Fotos Zeit nehmen kann und bewusst fotografieren will. Und für schnellere Aufnahmen gibt es Tricks, auf die wir noch später kommen …

 

Die Leica M10 ist mit 5 Bildern pro Sekunde schnell geworden und zeichnet hier lückenlos den Anflug eines Flugzeugs auf Thira auf

Und dennoch wurde die Leica M10 seit ihrem letzten Grundmodell, der M9 im Jahre 2009 (Fotointern berichtete), gehörig überarbeitet: Sie hat einen neuen Vollformatsensor mit 24 Megapixel bekommen, der mit dem neuen Maestro-II Bildprozessor Sequenzen von bis zu fünf Bildern pro Sekunde zulässt. Zudem ist sie WiFi-tauglich und lässt sich fernsteuern. Bei Alledem ist sie auch vier Millimeter dünner geworden, worauf die Leicaner zwar mächtig stolz sind, was jedoch im täglichen Gebrauch nicht wirklich entscheidend ist. Zudem würde ich die paar Millimeter gerne für ein Schwenkdisplay hergeben.

 

Auch der Sucher der Leica M10 ist überarbeitet worden und zeigt ein rund 30 Prozent grösseres Sehfeld, eine Suchervergrösserung von 0,73x und einen um 50 Prozent verbesserten Augenabstand, was vor allem den Brillenträgern zu Gute kommt. Der optische Durchsichts-Messsucher der Leica M10 ist eine traditionelle Besonderheit dieser Kamera-Art und geht auf die Urzeiten der M-Modelle zurück. Besonders ist einerseits der äusserst präzise Entfernungsmesser mit einer breiten Messbasis, anderseits die brennweitenbezogenen eingespiegelten Formatrahmen. Dass diese sogar einwandfrei parallaxkorrigiert arbeiten, ist eine Leica-Spezialität, welche mit einer aufwändigen Mechanik verbunden ist. Allerdings verdeckt das Objektiv zwangsläufig in der rechten unteren Ecke einen Teil des Sucherfeldes – ein Nachteil, mit dem Leica-Fotografen seit Urzeiten leben. Deshalb hat die Leica M10 auch eine Live View-Funktion, die in kritischen Situation und immer dann, wenn es auf dem exakten Bildausschnitt wirklich ankommt, eine äusserst nützliche Praxishilfe ist.

 

Besuch des «Tomato Industrial Museum» in Vlychada, einst eine blühende Industrieanlage, wo weltweit exportiertes Tomatenpüree produziert wurde. Mit dem Aufkommen des Tourismus fanden die Arbeiter lukrativere Beschäftigungen, so dass die Tomatenfabrik schliessen musste. Heute ist sie ein sehenswertes Museum und ein Kulturzentrum – sowie ein ideales Reportageobjekt für die Leica M10 mit dem 28mm-Objektiv

Weiter wurde die Display-Bedienung mit nur drei Tasten «LV» (Live View), «Play» (Bildbetrachtung) und «Menü» vereinfacht. Als Reminiszenz aus der analogen Zeit mutet die als «Rückspulknopf» getarnte ISO-Einstellung auf der linken Seite an. Originell gedacht ist der hochzuziehende Knopf etwas schwierig zu bedienen, zumal sich Fotografinnen mit langen Fingernägeln nicht sonderlich darüber freuen werden. Weiter auffallend ist das mit mehreren Funktionen belegbare Daumenrad, welches für mich zur Belichtungskorrektur sehr nützlich war, sowie die schon von früher bekannte Kreuzwippe mit der Mittentaste, die für die Navigation, Messpunktverschiebung und Anzeige von Einstellungen dienlich ist.

 

Auch der Besuch des Weinmuseums Koutsoyannopoulos in Cycalades lohnt sich. Der Rundgang führt vorbei an vielen Schauszenen, welche die Weinherstellung mit historischen Utensilien erklären. Mit den oft knappen Lichtverhältnissen kommt die Lichtstärke 1:1,4  des Summilux-M spielend zurecht. Und wir danach auch mit der Weindegustation …

Wie schon frühere Leica M-Modelle hat man die Leica M10, die mit dem Summilux-M 1,4/28mm stolze 1094 Gramm auf die Waage bringt, sehr sicher in der rechten Hand, was mitunter der auch der neuen Daumenauflage zu verdanken ist. Weiter liegt die Kamera – durch die manuelle Entfernungseinstellung schon fast zwangsläufig – sicher auf der rechten Hand, was zu einer hohen Stabilität, auch bei längeren Belichtungszeiten, führt.

 

Sie sollten auf Santorini nicht nur das einheimische Bier «Crazy Donkey» kosten, sondern auch die kleine aber feine Brauerei bei Kamari besuchen

Autofokus- und automatikverwöhnte Fotografen können sich kaum vorstellen, wie man mit der auf das Wesentlichste reduzierten Einstelltechnik schnelle Bilder machen kann. Man kann. Die weltbekanntesten Fotografen haben uns dies vor Jahrzehnten schon vorgemacht als es alle diese modernen Begriffe noch gar nicht gab. Die neue Leica M10 kommt für das schnelle Fotografieren mit zwei nützlichen Einstellhilfen daher:

Mit manueller Blendenvorwahl und Zeitautomatik kommt die Kamera in der Eile mit fast jeder schnellen Fotosituation zurecht. Dazu stelle ich die mittenbetonte Messcharakteristik ein sowie eine mittlere Blende 8 oder 11.

Als weitere Besonderheit, die früher an allen Objektive egal welcher Marke üblich war, gibt es an den Leica-Objektiven eine Schärfentiefenskala, die anzeigt, bei welcher Blende der Schärferaum wie weit reicht. Bei Blende 11 beispielsweise, auf 2,5 Meter Distanz eingestellt, reicht die Schärfentiefe mit dem 28mm Objektiv von 1,2 Metern bis Unendlich.

 

 

Nützlich, und fast einzigartig geworden bei Leica-Objektiven, ist die Schärfentiefeskala. Mit ihr kann man den scharf abzubildenden Motivraum direkt einstellen. Das obere Bild zeigt mit voller Öffnung eine geringe Schärfentiefe, das untere Bild mit Blende 11 einen grösseren Schärferaum

Mit solchen Voreinstellungen ist man mit der Leica M10 für die meisten Fällen schussbereit. Egal was da kommt, ich werde mit höchster Wahrscheinlichkeit auf Knopfdruck ein scharfes und korrekt belichtetes Bild haben. Und für alles andere lasse ich mir Zeit, die Einstellungen so zu wählen, wie sie für eine überlegte Fotografie notwendig und sinnvoll sind.

 

Natürlich lässt sich die Leica M10 auch gänzlich manuell bedienen, mit manueller Blenden- und Verschlusszeiteinstellung. In diesem Fall nutzt man die Lichtwaage im Sucher für die korrekte Belichtungseinstellung, wobei der rote Pfeil die Drehrichtung des Blendenrings anzeigt. Leuchtet der rote Punkt zwischen den beiden Pfeilen, ist die Belichtung korrekt gewählt.

 

Leica Summilux-M 1:1,4/28mm Asph im Fokus …

Eine Reise an einen derart motivreichen Ort mit nur einem Objektiv anzutreten, würde ich eigentlich niemandem raten. Aber ich habe mir diese Einschränkung selbst auferlegt – nicht zuletzt inspiriert durch die Top Story von Peter Schäublin, der mit nur einem 50 mm Objektiv eine 24-Stunden-Flughafenreportage durchfotografiert hat.

Um es vorweg zu nehmen: Dann und wann hätte mich schon ein 15- oder 21 mm Objektiv gereizt, um eben mehr aufs Bild zu kriegen oder eine stärkere perspektivische Wirkung zu erzielen. Doch die Einschränkung auf das 28mm Objektiv war insofern eine gute Erfahrung, als ich mir in vielen Fällen sorgfältig überlegen musste, wie ich den Bildausschnitt wähle, um mit dem reduzierten Bildwinkel eine möglichst starke Bildaussage zu erreichen. Und so reduziert ist der Bildwinkel des 28ers nun auch wieder nicht, denn mit den horizontalen 65 Grad lässt sich doch schon allerhand anfangen.

 

Ein gepflegter Friedhof irgendwo auf Santorini – abseits der Touristenroute. Für solche Übersichtsaufnahmen ist die 28mm-Brennweite geradezu ideal

Das Leica Summilux-M 1:1,4/28mm Asph hat sich in der Praxis als ein universelles Reportageobjektiv erwiesen, mit einem Bildwinkel, der für Landschaften und Architekturen ideal ist, der aber auch mit seiner grossen Schärfetiefe weite Objekträume spannend abbilden lässt. Einzig die Naheinstellung von  nur 70 Zentimetern lässt etwas zu wünschen übrig. Da und dort hätte ich gerne die fantastische Flora und die blühenden Kakteen noch etwas grösser aufgefasst. Doch Nahaufnahmen waren noch nie die Stärke der M-Kameras, die in ersten Linie für die präzise Reportagefotografie konzipiert sind.

 

Die Nacht überzieht das Firmament mit feinen Blaunüancen, und in der Stadt Fira gehen die Lichter  an – eine eindrucksvolle Stimmung

Dafür lässt das Summilux-M 1:1,4/28mm Asph bei spärlichen Lichtverhältnissen seine Bizeps spielen, in der sogenannten «Available light» Fotografie. Die volle Blendenöffnung von 1:1,4 erweitert den Einsatzbereich der Kamera bei Nachtaufnahmen beträchtlich und ermöglicht auch ein völlig unbemerktes Fotografieren beim «Schuss aus der Hüfte», ohne durch den Sucher zu schauen. Mit etwas Übung gelingen so originelle Schnappschüsse, wie unsere nächtliche Strassenszene auf der Bummelmeile von Firá.

Das Summilux-M 1:1,4/28mm Asph ist auf der nächtlichen Bummelmeile von Fira in seinem Element

 

Das Fazit: Die Woche mit der Leica M10 auf Santorini war eine wertvolle Erfahrung, bei der ich mich von Technikballast losgelöst ganz auf das Wesentliche in der Fotografie konzentrieren konnte. Auch wenn die manuelle Leica in ihrem Bedienkonzept aus heutiger Sicht etwas gewöhnungsbedürftig ist, erweist sie sich als verlässliches und qualitativ hochwertiges Tool, das nicht nur mit allen Fotosituationen zurechtkommt, sondern das auch Spass macht. Spass, bewusster zu fotografieren, Spass aber auch eine Kamera zu benutzen, die als technisches Meisterstück etwas ganz Besonderes ist.

Text und Bilder: Urs Tillmanns

 

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6 Kommentare zu “Eine Insel, eine Kamera, ein Objektiv”

  1. So ein von Herzen kommender Bericht öffnet leidenschaftliche Fotografenseelen im Sturm, eindrücklich und interessant ! Und: es hat Dich sicher viel Überwindung gekostet, nur eine Brennweite in eine so eindrückliche Gegend mitzunehmen….
    Ganz herzlich

  2. Sehr schöner Bericht mit super Bildern an einem wunderbaren Ort. Schön, dass du dich darauf eingelassen hast. Als Q Fotograf lerne ich immer mehr die Einschränkung, wenn man dem so sagen kann, schätzen.

  3. Da hast Du eine tolle Auswahl von Bilder getroffen.
    Sooo guet und Super Bericht, gratuliere.
    war auch eine schöne aufgestellte Woche mit Dir.

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