Urs Tillmanns, 9. Juli 2017, 09:00 Uhr

Rencontres Arles: Fotokunst und Begegnungen

Die Rencontres in Arles sind nicht nur das grösste Fotofestival Europas, sondern sie sind auch ein Begegnungsort für Tausende Fotobegeisterter. Ideal, um sich ein Bild zu machen von den Strömungen und Tendenzen der Gegenwart aber auch um die Werke von Klassikern zu bewundern. Auch dieses Jahr gab es viel von beidem zu sehen.

 

Die Eröffnungswoche der Rencontres in Arles, dem grössten Fotofestival Europas, ist vorüber. Auf dem Programm, die vielen Vernissagen, Eröffnungsreden, Führungen, Artists talks und Pressekonferenzen. Rund 17’500 Besucher (lauf offiziellem Schlussbericht) hat Arles alleine in dieser Woche empfangen, Fotografen, Kunstliebhaber, Galeristen, Museumsfachleute, Journalisten und Besucher, die ganz einfach Freude an der Fotografie haben. 17’500 Leute, die im weiten Umkreis der Metropole der Provence eine Übernachtungsgelegenheit suchen mussten, weil Arles gar nicht in der Lage wäre so viele Leute zu beherbergen. Darunter auch viele Fotokünstler aus allen Ländern, die bereitwillig ihre Bilder zeigen – und erklären, denn nicht hinter Allem sieht man sofort Idee des Fotografen und die künstlerisch sinnvolle Umsetzung.

Um es vorweg zu nehmen: Wenn Sie bei der Eröffnungswoche nicht mit dabei waren, haben Sie nichts verpasst, denn die Ausstellungen in Arles sind noch bis 24. September 2017 zu sehen. Alleine 40 offizielle Ausstellungen sind an den Rencontres zu sehen. Dann kommen nochmals 141 Ausstellungen der «Voies Off» hinzu, die vor allem mit jungen Künstlern nach neuen Ausdrucksmitteln suchen und sich nicht in «ausgetretenen Pfaden» bewegen wollen. Und dann kommen noch eine Reihe von Kunstgalerien hinzu, die während den Rencontres rein zufällig auch noch Fotografie ausstellen, sowie unzählige meist sehr junge Fotografen, die irgendwo auf der Strasse oder an Hauswänden ihre Kreationen präsentieren. Fotografie also, noch und noch … aller Stilrichtungen und für alle Geschmäcker. Bilder, die auf Anhieb gefallen, solche die zu heftigen Diskussionen Anlass geben und letztere, die kaum die Gunst der Betrachter erlangen. Die Rencontres sind vielfältig, sehr vielfältig sogar. Die Rencontres wollen Plattform kontemporärer Kunst sein, wollen Neues präsentieren und Klassikern gebührenden Raum geben.

 

Hier geht es zu den Ausstellungen – zwar nicht in Stein gemeisselt, aber immerhin auf den Asphalt gespritzt. Wenn da nur der perfide Übersetzungsteufel nicht wär’ …

Die rund 200 Ausstellungen in einem Artikel zu präsentieren kann nicht das Ziel eines Artikels sein. Wir beschränken uns auf eine Reihe von Highlights, die uns persönlich aufgefallen sind – die gefallen haben – oder auch nicht. Eine Wertung überlassen wir gerne Ihnen, falls Sie die Rencontres noch besuchen und dann auch die Rosinen der vielen «Voies Off»-Ausstellungen suchen, die wir unfairerweise und aus zeitlichen Gründen aussenvor lassen mussten.

 

Rencontres: Highlights und Newcomers

Joel Meyerowitz: Early Works

Eines der grossen Highlights der diesjährigen Rencontres sind die frühen Arbeiten des amerikanischen Strassenfotografen Joel Meyerowitz. Die Bilder entstanden während einer interessanten Phase von Meyerowitz’ Schaffen in den sechziger Jahren, als er, zunächst zaghaft, von Schwarzweiss auf Farbe wechselte.

 

Michael Wolf: Life in Cities

Die Rencontres zeigen in der gediegenen Eglise des frères Préchereurs eine umfassende Show verschiedenster Arbeiten von Michael Wolf, die sich mit Themen der Städtefotografie befassen. Die Retrospektive beginnt 1976 mit einer Schwarzweissreportage über die Minenregion von Bottrop-Ebel, zeigt Architektur-Strukturen aus Tokio, Hong Kong und Chicago und beeindruckt schliesslich mit Porträts, die im Gedränge der Tokioter U-Bahn entstanden sind.

Beachtlich und ausdrucksstark ist ferner seine Installation «The Real Toy Story», in welcher er, umgeben von einer Fülle von Billig-Spielwaren, Porträts junger Fabrikarbeiterinnen zeigt, die mit deren Produktion unter Akkordbedingungen beschäftigt sind.

 

Marie Boco: Cтансы / Stances

Unter Überschrift «Haltungen» zeigt die spanische Fotografin Marie Bovo Durchblicke, die auf einer Reise durch Osteuropa und Russland entstanden sind. Ähnlich des Schlitzverschlusses in der Kamera nimmt Marie Bovo Eindrücke aus Fenster und Türen der Züge wahr, mit denen Sie ihre weite Reise in den Osten bewältigte.

 

Levitt France: «Une utopie pavillonnaire»

Fünf Fotografen haben dieses Siedlungsprojekt mit standardisierten Einfamilienhäusern in der Umgebung von Paris fotografiert, welches nach amerikanischem Muster des Städteplaners William Levitt in den frühen 1970er-Jahren realisiert wurde. Lässt sich die amerikanische Wohnkultur ohne weiteres auf eine Vorortsiedlung in Frankreich übertragen? Wie wird sich dieser grosszügig geplante Wohnraum weiter entwickeln?

 

Gideon Mendel: «Un monde qui se noie»

Mendel befasst sich mit der Problematik des Klimawandels und dem Ansteigen des Meeresspiegels. Deshalb fotografiert er Überflutungsgebiete überall auf der Welt und porträtiert dort die Menschen, die ihr Hab’ und Gut in unheimlichen Wassermassen verloren haben.


Nicht nur die Menschen sind Motive dieser eindrucksvollen Dokumentation sondern ebenso die unersetzbaren Familienfotos, die von den Fluten zerstört wurden.

 

Niels Ackermann und Sébastien Gobert: «Looking for Lenin»

Seit der bolschewikischen Revolution 1917 sind Statuen von Lenin in Russland omnipräsent. Mit dem Ende des Kommunismus wurden die vielen Lenin-Statuen unpopulär und verschwanden allmählich aus dem Landschaftsbild – bis der Genfer Fotograf Niels Ackermann und der ukrainische Journalist Sébastien Gobert ihre Spuren wieder aufnahmen. Viele sind niedergerissen, geköpft oder geschändet – aber sie sind noch da …

 

Iran, année 38: 66 photographes iraniens

Ein weiterer Höhepunkt der Rencontres ist die Kollektivausstellung «Iran, année 38», in der 66 Fotojournalisten aus dem Iran die letzten 38 Jahre der Geschichte ihres Landes dokumentieren. Es sind Bilder die schonungslos anklagen und eine Wirklichkeit zwischen Kriegen und der islamischen Revolution zeigen, die wir eigentlich gar nicht sehen möchten. Aber wir müssen sie sehen …

 

Masahisa Fukase: «l’incurable égoïste»

Der vor vier Jahren verstorbene Masahisa Fukase hat sich mit seinen Dokumentationen in Magazinen weit über Japan hinaus einen Namen geschaffen. Die Rencontres zeigen eine Retrospektive dieses grossen Meisters, welche die Vielfältigkeit seines Schaffens zeigt, sei es mit dem Thema der Raben, seiner Katze, über die er drei Bildbände veröffentlicht hatte, seine Porträts- und Gruppenaufnahmen und letztlich seine privaten Bilder.

 

Karlheinz Weinberger: «Swiss Rebels»

Der Zürcher Fotograf Karlheinz Weinberger hat die Zeit der 1960er-Jahre und die revoltierende Schweizer Jugend dokumentiert und ist hier mit Bildern präsent, die bei dem internationalen Publikum auf grosses Interesse stossen. Konnten die braven Schweizer damals wirklich so dezidiert und extravagant auftreten? Übrigens auch das Leitbild der Rencontres, der Tankwart, stammt aus der Linse Weinbergers. Warum es überall kopfüber gezeigt wird, konnte mir niemand erklären …

 

Jean Dubuffet: «L’outil photographique»

Nein, Jean Dubuffet, der in den Rencontres eine sehr grosse Ausstellung bekam, ist nicht Fotograf. Er ist als Maler und Skulpturist bekannt. Der Schwerpunkt der Ausstellung liegt viel mehr auf den Fotografien, die er als Ausgangsmaterial für seine Kreationen benutzte und anderseits um Fotos, die von Dubuffet bei seiner Arbeit und in seinem privaten Umfeld gemacht wurden. Eine Dokumentation mit vielen spannenden und aufschlussreichen Details.

 

Carlos Ayesta und Guillaume Bression: «Retracing our steps, Fukushima Exclusion Zone 2011-2016

Mit den Bildern aus der Zone Null von Fukushima erinnern uns die beiden französischen Fotografen Carlos Ayesta und Guillaume Bression (wobei letzterer in Japan wohnt) an den wohl grössten Mahnfinger der Natur. Sie haben in den letzten Jahren Fukushima immer wieder besucht und trauten ihren Augen nicht, was sie dort sahen. Heute holt sich die Natur allmählich ihre Urform wieder zurück.

 

Annie Leibovitz: «The Early Years, 1970-1983»

Ein absoluter Höhepunkt der Rencontres ist die grosse Annie Leibovitz Ausstellung, welche die Stiftung Luma organisiert hat. Sie zeigt rund 3000 (aus einer Selektion von 5000) Werke der berühmten amerikanischen Gesellschaftsfotografin, aus ihrer frühen Schaffensperiode, als sie unter anderem für das Rolling Stones Magazin arbeitete. Doch sind auch ebenso beeindruckende und bisher selten gezeigte Bilder aus der Welt der grossen Politik und kulturellen Ereignissen zu sehen. (Lesen Sie dazu auch unseren Artikel über die Annie Leibovitz-Ausstellung in Zürich)

 

Peter Fischli & David Weiss: «Visible World»

Das Schweizer Künstlerduo Peter Fischli und David Weiss präsentiert, ebenfalls in der Grande Hall und unter der Schirmherrschaft der Stiftung Luma, 3000 Diapositive auf einem 31 Meter langen Leuchttisch. Die Bilder zeigen eine Fülle verschiedenster Landschaftsmotive, die in und nach den 1990er-Jahre entstanden sind. Für viele, insbesondere jüngere Besucher, sind die vielen Farbdias ein erstmaliger Kontakt mit einer ungewohnten Präsentationsform aus dem vergangenen analogen Zeitalter.

 

Nonante-neuf: Die Schweiz auf den Rencontres

Bereits zum dritten Mal ist die Schweiz mit ihrem Ausstellungsbereich «Nonante-neuf» an den Rencontres präsent. Wichtigster Partner ist der Kanton Waadt mit der Präsenz der Kunsthochschule CEPV Vevey, dem Musée Elysee und der ECAL Lausanne, mit der Unterstützung des Kulturfonds Pro Helvetia. Es ist in erster Linie eine Begegnungszone in der unter anderem die Abschlussarbeiten von Fotografiestudenten als Multivision zu sehen sind.

 

Guillaume Herbault und Eleonore Lubna: «Kiev-Donbas: A Rount Trip»

Bereits zum fünften Mal ist Olympus Partner der Rencontres und bringt Aufsehen erregende Bilder nach Arles. Diesmal ist es eine Reportage von Guillaume Herbault und Eleonore Lubna über den Ukraine-Krieg und deren unübersehbare Folgen. Die Schwerpunktzone der Kämpfe ist kaum mehr zugänglich und zeigt eine unvorstellbare Zerstörung und Brutalität.

 

Des clics et des classes

Was Sie hier sehen, ist nicht etwa irgendeine Schulklasse, welche die Rencontres besucht, sondern es sind Schülerinnen und Schüler aus Lyon, die mit ihrer Klassenarbeit im Austausch mit einer Schule in Südamerika an der Ausstellung «des clics et des classes» mitgemacht haben. Was für ein stolz, mit zehn Jahren am grössten Fotofestival Europas mitmachen zu können! Mit verschiedenen Ausstellungen und Aktivitäten wollen die Rencontres zunehmen junge Besucher gewinnen.

 

Pulsion urbaines: Photographie latino-américaine, 1960-2016

Die Ausstellung im Espace van Gogh bringt uns eine weitgehend unbekannte Bilderwelt näher und erzählt uns in Hunderten von Bildern das Leben in den Vorstädten kolumbianischer Grossstädte von 1960 bis 2016. Das bisher kaum in Europa gesehene Bildmaterial stammt aus der grössten südamerikanischen Fotosammlung von Leticia und Stanislas Poniatowski.

 

Galerien in den Strassen

Die Rencontres sind Anziehungspunkt sowohl für arrivierte Fotokünstler, Kunstsachverständige und Newcomer, die sich sehr oft irgendwo im Zentrum von Arles präsentieren. Viele junge Künstler zeigen ihre Bilder, um sie wenn möglich zu verkaufen oder von jemandem entdeckt zu werden, mit der Hoffnung dereinst den Schritt in die grosse Kunstwelt zu schaffen.

 

«Fotofever» präsentiert Mami Kiyoshi mit «New Reading Portraits»

Die vor sechs Jahren gegründete Verkaufsgalerie für junge Künstler und Sammler ist neben ihrem Stammplatz in Paris erstmals auch während den Rencontres in Arles in der Stiftung Manuel Rivera-Ortiz präsent. Sie zeigt hier zehn Künstler mit verschiedenartigen Arbeiten, wobei uns die Bilderserie «New Reading Portraits» der Japanerin Mami Kiyoshi besonders gefallen hat. Inspiriert vom Bildaufbau traditioneller Holzdrucke und Motiven aus ihrem persönlichen Umfeld vermittelt sie geschickt arrangierte Szenen, die echt und natürlich wirken.

 

Übrigens, auch abends kommt in Arles kaum Langeweile auf. Fast jeden Abend ist irgendetwas los, seien es Artist Talks oder Video- und Fotoprojektionen.

Die Rencontres haben sich in den 48 Jahren ihrer Existenz zu mehr entwickelt als eine reine Ausstellungs-Plattform. Man kommt ebenso nach Arles, um sich mit Bekannten und Berühmten zu treffen, wie um sich über Fotografie auszutauschen und Kontakte zu pflegen. Hinzu kommt das besondere Cadre dieser charmanten Stadt mit ihren autofreien Gässchen und Winkeln, in denen es da und dort Fotografie zu entdecken gibt. Die Recontres sind ein ganz besonderes Fotofestival, an dem man sich gerne und oft – der Name sagt’s – begegnet.

Text und Bilder: Urs Tillmanns
fotografiert mit der neuen Sony a9

 

Infos zu den Rencontres

Dauer: 4. Juli bis 24. September 2017

Preise:
Dauerkarte:
Juli/August: Tageskasse EUR 40/32, Internet EUR 36/28
September: Tageskasse EUR 34/29, Internet EUR 30/25
Tageskarte
Juli/August: Tageskasse EUR 33/28, Internet EUR 29/24
September: Tageskasse EUR 31/26, Internet EUR 27/22
Einzelausstellung; ab EUR 5.00

Weitere Informationen: www.rencontres-arles.com

 

Ein Kommentar zu “Rencontres Arles: Fotokunst und Begegnungen”

  1. Zur Umdrehung der Porträtfotografie von Karl Heinz Weinberger

    Vielleicht haben sich die Franzosen hier einen kleinen Scherz erlaubt, der sich nur geografisch bewanderten Menschen erschliesst, oder zumindest den meisten Franzosen, die als Jugendliche im Geografieunterricht gut aufgepasst haben. Aus ESSO, so heisst die Deutsch-Amerikanische Petroleum Gesellschaft bekanntlich seit 1950, wird durch die Drehung der Fotografie um 180 Grad die OSSE, ein kleines Dorf, vor allem aber der französische Fluss OSSE. Da fliesst dann eben nicht das Öl – so hoffen wir zumindest –, sondern das Wasser und der junge, attraktive Tankwart mutiert mitsamt Mütze zu einem Matrosen; der damit einhergehende Bedeutungswandel ist der Fotografie immanent.

    Ja, ja, die Sprache und deren Gebrauch. Gegenüber dem Google-Übersetzer, der bei Exposition einzig und allein «Belichtung» ausspuckt, wäre dann wohl etwas mehr Skepsis angesagt gewesen. So haben die der deutschen Sprache mächtigen zumindest bei diesem unfreiwilligen «Sprachwitz» etwas zu schmunzeln.

    So weit zu meiner «detektivischen Ermittlungsarbeit». Eventuell gibt es zur Umdrehung der Fotografie ja noch andere Thesen.

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