Urs Tillmanns, 19. April 2020, 10:00 Uhr

Makrofotografie – Kleines ganz gross zeigen

Fotointern: Herr Lichtsteiner, was braucht es um in die Welt der Makrofotografie einzutauchen?

Hermann Lichtsteiner: Zuallererst braucht es Freude und Lust, im Kleinen das Grosse zu entdecken. Und dann noch viel Geduld, denn vor allem wenn man bewegten Motiven hinterherjagt, sind diese oft wieder weg, bevor man auf sie scharfgestellt hat. Kameraseitig ist es einfach geworden. Schon Kompaktkameras bieten heute einen Makro- oder sogar Supermakro-Modus, womit bereits ganz passable Nahaufnahmen möglich sind. Bei höheren Ansprüchen wird der Einsatz einer Spiegelreflex- oder Systemkamera aber kaum zu umgehen sein. An diesen können in einem ersten Schritt günstige Zwischenringe oder Umkehrringe zwischen Kamera und Objektiv angebracht werden. Bleibt dann die Faszination für die Welt im Kleinen erhalten, lohnt sich die Anschaffung eines spezifischen Makroobjektivs (Empfehlung: Brennweite um die 100mm). Diese Objektive eignen sich übrigens oft auch hervorragend als Porträtlinsen.

Was raten Sie den Makro-Einsteigerinnen und Einsteigern?

Einfach mal anfangen mit dem, was man hat, und nicht zu Beginn gleich schon perfekt sein wollen. Die Kamera packen, raus vor die Tür und die Makrofunktion ausprobieren. Fotografieren Sie zuerst eher flache und statische Motive: Blumen mit flachen Blüten bei Windstille, Steine und ihre Muster, Baumrinden, Moose und Flechten, Blätter … Alles, was Strukturen hat und wo durch das Nah-ran-Gehen die Bezugsgrösse verloren geht, eignet sich und kann faszinierende Bilder ergeben. Die Adern von grossen Baumblättern werden zum Beispiel so – vor allem bei Streiflicht – zu tollen Flusslandschaften.

Die eigene Kamera sollte man aber schon einigermassen im Griff haben, vor allem, was das Fokussieren angeht. Der Bereich der Schärfentiefe ist bei Makroaufnahmen sehr begrenzt. Es gehört aber auch zum Reiz der Makrofotografie, dass der Hintergrund in die Unschärfe abtaucht (Stichwort Bokeh-Effekt). Darum arbeite ich bei Makrobildern gerne auch mit offener Blende. Zum Üben eignet sich auch ein Regentag zuhause: Tisch ans Fenster rücken, Kompaktkamera auf Blümchensymbol stellen und all die kleinen statischen Dinge aus der eigenen Wohnung fotografieren: Erinnerungsstücke, Münzen, Zündhölzer, Farbstifte, aufgeschnittene(s) Früchte bzw. Gemüse.

Beginnen Sie nicht gleich mit dem systematischen Fotografieren von Kleinstlebewesen, sonst werden sie schon bald vor lauter Frust die Kamera wieder beiseitelegen. Bevor Sie sich entscheiden, spezifischen Makroequipment anzuschaffen, machen sie den ultimativen Test. Gehen Sie mal mit der Kamera für ein paar Stunden in den Wald oder Park und suchen Sie nach Makromotiven. Knien sie auch mal nieder oder legen Sie sich flach hin. Viele Makromotive finden sich ganz tief unten und wollen auf Augenhöhe fotografiert sein: Unscheinbare Blüten, kleine Pilze, Moose und Flechten …

Und wenn Sie Glück haben, finden Sie einen Makronisten in Ihrer Umgebung, der Sie mal auf eine Makrotour mitnimmt. Haben Sie dann Ihre ersten Erfahrungen gesammelt und immer noch Spass an der Sache, können Sie einen Schritt weitergehen und sich zu Ihrer Spiegelreflex- oder Systemkamera ein Makroobjektiv zulegen.

Das ist aber zunächst wohl auch keine Erfolgsgarantie …

Nein, jetzt beginnt das Ganze von vorne. Sie müssen sich an das neue Equipment gewöhnen und immer wieder üben, um vertraut zu werden mit dem neuen Tool. Meine Erfahrung: Wer das manuelle Fotografieren beherrscht – manuelles Einstellen von ISO, Blende, Verschlusszeit und Fokus – sich auf seinen Touren genügend Zeit nimmt, sich für die Natur und die jahreszeitlichen Abläufe interessiert, sich auch mal für ein Motiv flach hinlegt, den wird die Makrofotografie nicht mehr so schnell loslassen.

Makrofotografie ist auch eine Schule der Geduld und der Achtsamkeit. Man muss an einem Ort verweilen können, um die Details zu finden. Nehmen Sie sich Zeit und setzen Sie sich in einer Wiese, am Bach, an einem vermoderten Baumstumpf im Wald einfach mal für mindestens eine halbe Stunde hin. Sie werden nach einigen Minuten eintauchen in einen prächtigen Makro-Kosmos.

Für gewisse Motive steht man noch in der Nacht auf, um am Morgen rechtzeitig vor Ort zu sein. Und es braucht Frustrationstoleranz, z.B. wenn alle Einstellungen gemacht sind und just vor dem Abdrücken der Schmetterling davonflattert.

Braucht man auch etwas botanisches und zoologisches Wissen, um mit den Motiven klarzukommen?

Sobald man das Augenmerk nicht nur auf zufällige Motive in der Natur richtet, ist dies dann die nächste Stufe. Je mehr man sich für die Materie interessiert, desto mehr will man auch wissen, was man eigentlich fotografiert. Gewisse Motive kriegt man nur vor die Makro-Linse, wenn man weiss, wo und wann ein bestimmtes Motiv zu finden ist. Wer sich auf diese Welt einlässt wird mit ästhetischen Formen, spannenden Strukturen und unbekannten Lebewesen belohnt.

Ich versuche jeweils herauszufinden, was ich genau fotografiert habe. So stellte ich zum Beispiel bei der nachträglichen Recherche im Internet fest, dass es sich bei meinem ersten Bild von sich paarenden Libellen an einem Teich gar nicht um Libellen handelte, sondern um Zweiflügler (Tipulidae) – besser bekannt als Schnaken. Diese werden zwar den Mücken zugeordnet, können aber gar nicht stechen. Und wo sie im zoologischen System genau einzuordnen sind, weiss man bis heute nicht. Und so suchte ich halt weiter nach den echten Libellen …

Mittlerweile weiss ich natürlich, wo und wann ich welche Libellen finde, und wie ich beim Fotografieren vorgehen muss. Allerdings schiesse ich keine Bilder für Bestimmungsbücher – das ist eine ganz andere Art der Makrofotografie. Ich versuche ästhetisch und emotional ansprechende Bilder zu bekommen: Bildkomposition, das Spiel mit dem Licht und der (Un-)Schärfe sind mir ebenso wichtig wie der dokumentarische Effekt.

Trotzdem: Es gehört für mich zu den wichtigen Nebeneffekten, mich dank der Makrofotografie intensiv mit Themen wie Naturschutz und Biodiversität auseinanderzusetzen. Insbesondere das Makroforum www.makro-treff.de ist für mich in diesem Bereich vorbildlich. Es vereint Wissen zu den Vorgängen in der Natur ideal mit fototechnischen und fotoästhetischen Aspekten. Und von einem der Gründer, Roland Günter, habe ich gelernt, dass es auch Insekten-Flüsterer gibt. Sich am richtigen Ort hinsetzen, Fotoausrüstung richten und warten, dann erscheinen die Protagonisten wie von selbst.

Welches sind die wichtigsten Tipps, die Sie für die Makrofotografie weitergeben möchten?

Tipp 1: Merken Sie sich spannende Orte für spätere Touren: Parks, kleine Biotope, Botanische Gärten, Industriebrachen, renaturierte Bäche und Flussläufe. Die Biodiversität ist in den Städten oft sogar grösser als auf dem Land.

Tipp 2: Gehen Sie so nah ans Motiv ran wie möglich. Je näher, desto eindrücklicher werden die Bilder. Das Motiv (z.B. Blüte) darf ruhig beschnitten werden. Sie möchten näher ran, als es ihr Objektiv erlaubt: Beschaffen Sie sich als erstes für die Spiegelreflex- oder Systemkamera einen (passenden!) Zwischenring (ein Ring mittlerer Grösse reicht).

Tipp 3: Beginnen Sie mit statischen Motiven – flache Blüten, Pilze, Blätter, Gräser – und sammeln Sie damit ihre ersten Erfahrungen. Und wie auch sonst in der Fotografie gilt: Das Morgen- und das Abendlicht schmeichelt auch den Makro-Motiven.

Tipp 4: Fotografieren Sie die Motive auf Augenhöhe. Von oben herab ergibt kaum spannende Bilder. In vielen Fällen muss man sich für ein wirkungsvolles Bild auf den Boden legen.

Tipp 5: Arbeiten Sie zu Beginn wenn immer möglich mit einem Stativ, das eine extreme Bodenstellung erlaubt (kleines Tischstativ oder Mittelsäule beim Reisestativ entfernen). Auch ein Bohnensack ist ideal. Makrofotografie aus der Hand ist möglich, braucht aber viel Erfahrung.

Tipp 6: Die Schärfe muss in der Makrofotografie zu 100% sitzen. Bei Blüten liegt der Fokus in der Regel auf dem Stempel, bei Insekten, Amphibien etc. auf den Augen. Nutzen Sie falls vorhanden LiveView und die Lupenfunktion ihrer Kamera für den perfekten Fokus.

Tipp 7: Insekten, insbesondere Schmetterlinge und Libellen, fotografieren Sie am besten an einem möglichst kühlen Sommermorgen rund um den Sonnenaufgang.

Tipp 8: Üben Sie sich vor Ort in Geduld! Makromotive in der Natur entdeckt man nicht innert Sekunden. Hinsetzen, sich umschauen, abwarten. Nach ein paar Minuten eröffnen sich plötzlich neue (Makro-) Welten!

Tipp 9: Wenden Sie die Elemente des kreativen Fotografierens auch in der Makrofotografie an. Das Spiel mit dem (Gegen-)Licht, die Bildkomposition, Schärfe und Unschärfe, … Und fotografieren Sie nicht im prallen Sonnenlicht; ein kleiner, zusammenklappbarer Diffusor ist oft sehr hilfreich.

Tipp 10: Tauschen Sie sich aus mit Makrofotograf/-innen. Leisten Sie sich einen (der seltenen) Makro-Kurse oder ein Coaching. Besuchen Sie gute Makro-Seiten im Internet wie www.makro-treff.de .

Weitere Informationen und Makroaufnahmen von Hermann Lichtsteiner finden Sie auf www.helifo.ch/makro/

 

Hermann Lichtsteiner

Die Affinität zum Thema Bild und zur Natur und insbesondere zu Landschaften der Zentralschweiz begleiten Hermann Lichtsteiner schon seit seiner Jugend in den 60er und 70er Jahren. Auch im Studium – Germanistik mit dem Schwerpunkt (Bild-)Medien und Geografie – blieben dies beiden Themen im Fokus. Beruflich begleitete ihn dann vor allem das Thema Bild. Über Jahrzehnte war er in der Lehrerinnen- und Lehrerbildung tätig. Seine Spezialgebiete waren die Bereiche Medienbildung, Bildsprache und Bildwirkung. Um die Jahrtausendwende bildete er sich weiter zum E-Learning-Spezialisten und war in der Folge an der PH Luzern als IT-Leiter und als Hochschuldidaktiker tätig.

In seiner Jugend fotografierte Hermann Lichtseiner intensiv. Dazu kam es nicht ganz zufällig: Sein Onkel war damals Importeur der Praktica-Kameras und der Orwo-Filme aus Ostdeutschland. Nach der Jahrtausendwende erfolgte der Einstieg in die digitale Fotografie mit Schwerpunkt Makro- und Landschaftsfotografie. In der letzten Berufsphase machte er sich selbstständig. Er bezeichnet sich als «Fotodidaktiker» und vermittelt Einsteigerinnen und Einsteigern in die ernsthafte Fotografie mit seinem speziellen Langzeit-Konzept die Basiskompetenzen des fotografischen Sehens, Wahrnehmens und Gestaltens

 

2 Kommentare zu “Makrofotografie – Kleines ganz gross zeigen”

  1. Ich möchte als Kursteilnehmer des LEARN TO CLICK Jahreskurses nur bestätigen, Hermann ist als Lehrer einfach GENIAL. Mit seinen eigenen konzipierten Unterlagen vermittelt er die Grundlagen der Fotografie auch einem Einsteiger in einer Form, wo selbst einem schlechter Schüler wie mir der Stoff bleibt. Praktisch hat man über das ganze Jahr immer wieder Fotoaufgaben um dranzubleiben und erhält immer Feedback und Motivation von Hermann. Ich kann den Kurs wirklich jedem empfehlen der fotografisch einen grossen Schritt vorwärts machen möchte.

  2. SG. Herr Lichtsteiner!! Danke fuer Ihren tollen Artikel, ich fotografiere leidenschaft. gerne fuer instagram (@birgit.muellner) mit dem huawei p30 lite & moechte mich gerne verbessern – zbsp. Auch mal eiskristalle od. tautropfen auf einem ast, hatten sie einen kamera Tipp fuer mich fuer Einsteiger (Digitalkamera)?? Oder ein anderes Smartphone fuer mehr makro(??)?

    Danke & mlg,

    Birgit Muellner
    Oesterreich

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