Urs Tillmanns, 20. November 2020, 16:00 Uhr

2. Folge Vier-Augen-Modell: Das Form-Auge

Das «Form-Auge» beschreibt die Gliederung und Gestaltung eines Bildes. Vereinfacht gesagt gehören alle Elemente zur Form, die die Oberfläche einer Aufnahme beeinflussen, ohne eine inhaltliche Aussage zu machen (z.B. Linien, Farben, Strukturen, Formen). Die inhaltliche Aussage wird beim «Erzähl-Auge» analysiert. Wir können die Wirkung des «Form-Augen» überprüfen, wenn wir das Bild mit leicht zugekniffenen Augen anschauen. So wird die Bildaussage nicht mehr klar erkennbar, aber die Wirkung der Formen bleibt sichtbar. Formen bilden das Fundament jeder Fotografie, auf dem die anderen «Augen» aufbauen. Nur wenn dieses stabil ist, können unsere Fotografien die angestrebte starke Wirkung entfalten, sofern auch die anderen «Augen» stark angesprochen werden.

 

Geometrische Formen und satte Farben üben auf uns eine besondere Faszination aus. © Martin Zurmühle

Das «Form-Auge» beschreibt die klassische Methode der Fotografie, wie Inhalte mit grafischen Formen und Elementen (Punkte, Linien, Kurven, Flächen, Muster, Farben u.a.) vermittelt werden. Diese Elemente sind die Buchstaben und Wörter der Sprache der Fotografie. Die Gestaltung (oder Komposition) dieser Elemente auf dem Bild entspricht dann dem Text der fotografischen Sprachen, der universell und weltweit verstanden wird.

 

Die Bildwirkung bei diesem Tropfenbild wird verstärkt durch die seitliche Anordnung der Tropfen, das diagonalen Musters im Hintergrund und die Aufreihung in der Achse der Wasserkreise. © Thomas Block

Dieser Bereich der Bildwirkung wird in allen bedeutenden Fotolehrbüchern in der ganzen Breite und Tiefe erörtert (z.B. bei den Klassikern von Andreas Feininger und Harald Mante, aber auch in den neuen Werken von Michael Freeman, Martin Zurmühle und anderen). Die entsprechenden Regeln sind klar und verständlich, können logisch begründet und erfasst werden und basieren so auf harten Fakten. Das «Form-Auge» entspricht deshalb der Sachebene des Kommunikationsquadrates von Friedemann Schulz von Thun.

 

Silhouettenbilder sind sehr formbetont. Durch eine maximale Reduktion der Bildelemente in Kombination mit einer gekonnten Gestaltung entfaltet dieses Bild eine starke Wirkung. © Salih Güler

Formen bildet das Grundgerüst einer wirkungsvollen Fotografie. Das Arbeiten mit starken Formen und eine gekonnte Bildgestaltung gehören zum Rüstzeug jedes ambitionierten Fotografen und die entsprechenden Fähigkeiten werden in Kursen und Lehrgängen intensiv geschult. Allerdings reichen diese Fähigkeiten für sich alleine noch nicht aus, um wirkungsvolle Bilder umfassend zu erklären.

Beim Schreiben des Lehrbuchs zum «Vier-Augen-Modell» und bei der Analyse verschiedener Bilder ist mir aufgefallen, dass sich die «Augen» oft in einer gegenseitigen Abhängigkeit befinden. Die Form-Ebene steht bei vielen Aufnahmen in einem engen Bezug zur Gefühls-Ebene. Die beiden anderen Ebenen haben dann nur eine kleine Bedeutung. Es gibt aber auch viele Bilder, bei denen steht die Erzähl-Ebene in einem engen Dialog mit der Ich-Ebene. Dann üben ebenfalls die beiden anderen Ebenen einen kleineren Einfluss auf die Bildwirkung aus.

Formen können auch zur Verstärkung der erzählenden und gefühlsmässigen Aussage des Bildes eingesetzt werden. So zeichnen sich preisgekrönte Bilder im Bereich der Reportage- und Kriegsfotografie oft durch solche starken Kombinationen aus. Erst durch eine perfekte Gestaltung der Aufnahme kommen die Geschichte und die gezeigten Emotionen erst richtig zur Geltung. Die Beherrschung der Formen ist deshalb in der Fotografie von grosser Bedeutung. Sie bildet das Fundament der wirkungsvollen Fotografie.

 

(AP Photo/Nick Ut)

Durch eine starke Kombination zwischen formalen, erzählenden und gefühlsmässigen Komponenten erzielt dieses Kriegsbild eine besonders starke Wirkung und gewann den Pulitzer-Preis des Jahres 1973. © Associated Press / Nick Ut

 

Wüstenlandschaften üben mit ihren Formen, Farbtönen und Oberflächenstrukturen eine grosse visuelle Faszination auf uns aus. Hier gelingt es Dionys Moser, die schlangenförmig sich windenden Hügelkämme (die diagonal über das Bild laufen) sehr spannungsvoll anzuordnen und in Szene zu setzen. Das flache Licht der Sonne modelliert diese Formen perfekt heraus. © Dionys Moser

 

Eine effektvolle Methode für abstrakte, formhafte Bilder sind Spiegelungen im Wasser. Bei diesem Bild nahm ich die am Ufer stehenden Gebäude über den sich bewegenden Fluss als Spiegelung im Wasser auf. Jedes Bild ist ein Unikat, denn der Fluss bewegt sich nie gleich. Die Gebäude zeigen nur noch ihre Farben, die Formen sind verwischt. Der Betrachter spürt so den Ort, ohne dass er die Motive erkennen kann. Entscheidend für die Bildwirkung ist die Schönheit der gezeigten Farben und Formen. © Martin Zurmühle

Text: Martin Zurmühle
Bildmaterial aus dem Buch des Autors

Lesen Sie auch:

Folge 1: «Das Vier-Augen-Modell von Martin Zurmühle», 13.11.2020

Die nächste Folge: Das «Erzähl-Auge» kümmert sich um die inhaltliche Aussage.

 

Das Buch zum Thema

Diese fünfteilige Artikelfolge basiert auf dem Buch «Lehrbuch Bilder analysieren» von Martin Zurmühle. Als zweites Buch der Trilogie Technik, Gestaltung und Wirkung in der Fotografie zeigt es Ihnen, wie Sie die Qualität von Fotografien bewerten, ihre Wirkung auf den Betrachter analysieren und das Besondere einer originalen, authentischen und kreativen Bildsprache erkennen können. In 10 Abschnitten (mit insgesamt 73 Kapiteln) werden die Bildwertung mit dem Doppelten Dreieck und die Bildanalyse nach dem Vier-Augen-Modell vorgestellt. Mit Aufnahmen von herausragenden Fotografen werden die verschiedenen Augen des Vier-Augen-Modells erklärt und den Einsatz des Modells in der Praxis und bei der Entwicklung einer eigenen Bildsprache aufgezeigt. Das Buch ist im 4-Augen-Verlag erschienen und kostet CHF 59.90 (inkl. Versand).

> Lesen Sie auch die Buchbesprechung auf Fotointern (15.12.2018)

 

2 Kommentare zu “2. Folge Vier-Augen-Modell: Das Form-Auge”

  1. Klasse Zusammenfassung der wichtigsten Punkte aus dem Zurmühle-Buch zu dem Thema!

    Das Beste finde ich aber den Tippfehler am Schluss => Bildmaterial aus dem Buch des AUTOS :-). Ein bisschen Spass muss auch in diesen ernsten Zeiten sein.

    Gruss aus der Ostschweiz,
    Udo

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