Urs Tillmanns, 29. August 2021, 17:51 Uhr

Alt.+1000 – Fotokunst auf 1000 Metern über Meer

Nachdem das Fotofestival Alt.+1000 zuvor seit 2008 viermal in Rossinière im «Pays-d’Enhaut» im Waadtland stattgefunden hatte, dislozierte dieses 2019 in den Neuenburger Jura und konnte – nach Angaben der Organisatoren – innerhalb von drei Wochen mehr als 10’000 Besucher/innen zählen. Jetzt ist die sechste Durchführung dieses Festivals aufgegleist – wiederum in der ruhigen Landschaft des Neuenburger Juras, im Musée des Beaux-Arts (MBAL ) in Le Locle, dann an den sanften Hängen einer Wiese oberhalb des Dorfes La Brévine und schliesslich an den Gestaden des idyllischen Lac des Taillères.

 

Der zauberhafte Garten von Chobert

Auf einer Wiese oberhalb des Dorfes La Brévine sind über 100 Blumen-Fotografien von 60 Fotokünstlern zu sehen

Allerdings ist die Ausstellung «Zauberhafter Garten» auf der Wiese in Chobert (siehe Plan am Schluss des Artikels) dürftig beschildert und nicht ganz so einfach zu finden. Man erreicht die «Prairie Chopard» über einen Feldweg, der etwa 200 Meter vor la Brévine rechts abzweigt. Danach ist der Weg mit (viel zu) kleinen Fusswegmarkierungen angegeben. Aber der Pfandfindereinsatz lohnt sich, denn auf der Wiese am Waldrand, sind rund 90 Werke von Fotografi/innen zu finden, die sich mit dem Thema Blumen intensiv und langfristig befasst haben.

Die Bilder sind auf der rund 200 Quadratmeter grossen Wiese sehr grosszügig angeordnet und präsentieren sich so, als ob man die verschiedenartigsten Blumenfotos in dieser artengerechten Umgebung pflücken könnte. Es sind Werke bekannter und neukommender Fotokünstlerinnen und Fotokünstlern, die sich sowohl in gegenständlichem als auch in abstraktem Stil fotografisch engagiert haben. Auf der Rückseite der Exponate sind Details zur Pflanze und zum Fotografen aufgeführt.

 

Die Idylle des Lac des Taillères

Zurück nach La Brévine, einem kleinen, verschlafenen Juradorf, das es als kälteste Ortschaft der Schweiz so etwa jeden Winter mit Tiefsttemperaturen in die Tagesschau schafft, zweigt man rechts ab Richtung französische Grenze und kommt dann nach rund einem Kilometer linkerhand zum Parkplatz am Lac des Taillères. Hier lohnt es sich den Weg unter die Füsse zu nehmen und dem südlichen Ufer entlang zu wandern. Man entdeckt dabei die Werke von rund sechzig Fotokünstlern, welche sich ausstellungmässig oder als Installationen am Ufer entlang und an den Waldrändern präsentieren. In dieser kollektiven Ausstellung mit rund 100 Werken von 14 Schweizer und internationalen Künstlerinnen und Künstlern, wird im ersten Teil die Frage nach dem Wesen der Landschaft gestellt. Die Fotografen spielen mit Materialien und Massstäben, um das Publikum zu verwirren.

 

Am Lac des Taillères zeigt die amerikanische Künstlerin Jin Lee ihre Serie «Small Mountains». Es sind Miniaturlandschaften von Salzhaufen, die durch menschliche Nutzung und die Witterung geformt wurden

 

Die fiktive Geschichte «Jurassic Glaciation Mission 2839» von Hilairadou Dunuya-Niekissé und Ismaela Zrydaoré entführt uns ins Jahr 2335. Nach dem plötzlichen Ausbruch des Vesuvs, verursacht die Abkühlung des Golfstroms findet eine Verschiebung des Klimasystems statt und führt zu einer grossen Vergletscherung, welche die nördliche Hemisphäre bedeckt. Diese Naturkatastrophe veranlasst die westliche Bevölkerung, auf den afrikanischen Kontinent und nach Asien auszuwandern. Viele Flüchtlinge kommen bei diesem Exodus in den Süden ums Leben. Fünfhundert Jahre nach dieser Tragödie erforscht ein multidisziplinäres Wissenschaftlerteam aus Mali zum ersten Mal den gletscherbedeckten europäischen Kontinent. Ihre Aufgabe ist es, dieses unwirtliche Gebiet zu beschreiben und die natürlichen und künstlichen Überreste der untergegangenen westlichen Zivilisation zu finden.

 

Die Installation «La géométrie du rocher» von Delphine Burtin ist ein Spiel von Illusion und Wahrnehmung. Von einer Matterhornattrappe in einem Vergnügungspark bis hin zu einer alpinen Kulisse im Zoo von Vincennes hinterfragt sie die Art und Weise, wie wir uns die Gipfel vorstellen und idealisieren und wie wir in die Landschaft eingreifen. Der künstliche Berg steht im Dialog mit unseren emblematischen Vorstellungen von Natur: Erhabenheit, Ewigkeit und Macht.

 

Einsames Bild von Apian (Aladin Borioli) in der jurassischen Landschaft. Es zeigt die Arbeit der Bienen an einer Blüte  und steht für die Abhängigkeit der Menschheit von der Existenz dieser nützlichen Tiere

 

Der Mikrokosmos am Lac des Taillères. Auf Einladung des Festivals sammelte Catherine Leutenegger Proben am Ufer des Lac des Taillères als Erweiterung ihrer Arbeit zur Erforschung der Wissenschaft und neuer Fotografie-Tools. Diese Schnipsel, seien sie pflanzlich, mineralisch, tierisch oder künstlich hergestellt, wurden nach Lausanne gebracht, um in einem Labor der EPFL mit einer in der Schweiz einzigartigen Technologie gescannt zu werden: der Röntgen-Mikrotomographie. Dieses wissenschaftliche Gerät analysiert die äußeren und inneren Eigenschaften von Objekten, ohne sie zu verändern. Die daraus resultierenden Visualisierungen, die in der Serie Unnatural Studies zusammengefasst sind, bestehen aus der Gegenüberstellung von mehreren Tausend Bildern mit mehrdeutigen Maßstäben und Formen. Jeder Abdruck wird dort präsentiert, wo die Probe entnommen wurde.

 

Die seltsamen und übernatürlichen Farben des arktischen Hochlands, fotografiert von Tiina Törmänen (Finnland, 1981)

Der zweite Teil der Ausstellung konzentriert sich auf die Interaktion zwischen Mensch und Tier. Wie steht es um die Beziehung zwischen einem lappländischen Bauern und seinen Rentieren oder einem Waadtländer Bauern und seinen Kühen? Inwieweit sind wir in der Lage, dem Instinkt entgegenzuwirken, die Technik ins Leben zu bringen? Im dritten Teil hat das Publikum ein Rendezvous mit den Einsiedlern der wilden Tessiner Täler, mit Männern, die mit der Landschaft verschmelzen.

 

In ihrer Serie hat die Pressefotografin Odile Meylan den Alltag eines benachbarten Bauern im Gros-de-Vaud dokumentiert. Mit Humor und Poesie hinterfragt sie unsere Beziehung zum Land und zu den Tieren.

 

Nelly Rodriguez hat die beiden Berg-Eremiten Paul und Gino in die entlegensten Täler des Tessins fotografiert. Sie haben sich entschieden, der normalen Welt den Rücken zu kehren, um so naturnah wie möglich zu leben.

 

Ode an die Natur im MBAL Le Locle

Monumentalinstallation an der Fassade des Musée Beaux-Arts Le Locle von Anastasia Samoylova zum Thema  des Grand Canyon im Klimawandel

Die Ausstellung «Montagne Magique Mystique» schöpft aus den Beständen historischer Fotografien aus 18 öffentlichen und privaten Sammlungen der Schweiz und zeigt Aufnahmen, von denen die meisten noch nie öffentlich ausgestellt wurden. Die erhabenen Gebirgspanoramen, die die Maler darstellten, inspirierten die ersten Fotografen und motivierten sie, ihre schwere Ausrüstung auf ihre Ausflüge in die Alpen mitzunehmen. Der Zeitraum 1840 bis 1940 entspricht den ersten 100 Jahren der Geschichte der Fotografie und zeigt den grundlegenden Wandel in der Einstellung zu den hohen Gipfeln: Dieser wilde und gefährliche Raum wird plötzlich als ein Ort der herrlichen Natur und großen Schönheit wahrgenommen.

 

Die Ausstellung «Montagne Magique Mystique» zeigt bisher ungesehene historische Fotografien aus 18 öffentlichen und privaten Sammlungen der Schweiz

 

Die Bilder des Zeitraums von 1840 bis 1940 entspricht den ersten 100 Jahren der Geschichte der Fotografie und zeigt den grundlegenden Wandel in der Einstellung zu den hohen Gipfeln: Dieser wilde und gefährliche Raum wird plötzlich als ein Ort der herrlichen Natur und grossen Schönheit wahrgenommen

Heute verfolgen die zeitgenössischen Fotografen einen anderen Ansatz, der sich in einer Demontage und Hinterfragung des Landschaftsbegriffs äussert. Manche KünstlerInnen arbeiten direkt in der Natur, während andere sich mit Umweltproblemen auseinandersetzen oder die pflanzliche Materie nutzen, um neue Formen der Kunst zu erkunden. Das MBAL hat vier zeitgenössische KünstlerInnen eingeladen, ihre Beiträge zu dieser Thematik einzubringen.

 

Mauren Brodbeck lässt ihre Werke frei im Raum schweben. Die Naturlandschaft bietet ihr die Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit dem Unberührbaren

Mauren Brodbeck lässt ihre Werke frei im Raum schweben. Die Naturlandschaft bietet ihr die Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit dem Unberührbaren. In der Installation von Rudy Decelière, die erst durch die von ihr selbst erzeugten Geräusche und Schwingungen mit den Gemälden der Kollektion des MBAL zusammen erlebbar wird, bringen Magnete und ein Netz aus Kupferdrähten getrocknete hohe Gräser zum Rascheln.

 

Ester Vonplon zeigt Fotogramme auf Fotopapier aus dem Jahr 1907. Der Alterungsprozess verleiht ihren Bildern ein unerwartetes Aussehen.

Ester Vonplon erstellt Fotogramme auf Fotopapier aus dem Jahr 1907. Der Alterungsprozess verleiht ihren Bildern ein unerwartetes Aussehen. Schliesslich hat Anastasia Samoylova eine ungewöhnliche Monumentalinstallation für die Fassade des MBAL angefertigt. Ihre Wandillustration verknüpft den Grand Canyon mit der Thematik des Klimawandels.

Die Präsentationen an der Alt.+1000 sind vielseitig und abwechslungsreich, doch haben sie alle das zentrale Thema der Fotografie von und in der Natur. Viele Besucher/innen werden die verschiedenartigsten Kreationen von mehr als 60 Fotokünstler/innen entdecken und dabei ihre Verbundenheit mit den umgebenden Naturlandschaften des Neuenburger Juras schätzen.

Text und Situationsbilder Urs Tillmanns

 

 

Was, wie und wo?

Was? 6. Alt.+1000, Fotofestival im Neuenburger Jura
Wann? 29. August bis 20. September 2021
Wo? Vallée de La Brévine, Le Locle
Wie viel? Die Freiluftausstellungen sind kostenlos, währen das MBAL in Le Locle CHF 8.00 / 6.00 Eintritt kostet.

Das ausführliche Programm zum Festival Alt.+1000 finden Sie hier (auf Französisch)

Weitere Informationen gibt es auf plus1000.ch

 

Die Ausstellenden Fotograf/innen:

Prairie Chobert «Zauberhafter Garten»
Cynthia Mai Ammann, Graziella Antonini, Apian (Aladin Borioli), Jeremy Ayer, Alexandra Baumgartner, Emma Bedos, Myriam Bonaglia, Christelle Boulé, Thomas Brasey, Jacques Brun, Olga Cafiero, Sarah Carp, Gaël Corboz, Julien Deceroi, Reto Duriet, David Favrod, Thomas Flechtner, Nikolai Frerichs, Erwan Frotin, Matthieu Gafsou, Catherine Gfeller, Yann Gross et Arguiñe Escandón, Alexandre Haefeli, Nicolas Haeni, Anna Halm Schudel, Aimée Hoving, Benoit Jeannet, Simone Kappeler, Laurence Kubski, Quentin Lacombe, Namsa Leuba, Lisa Lurati, Brigitte Lustenberger, Calypso Mahieu, Douglas Mandry, Mindaugas Matulis, Yann Mingard, Lucas Olivet, Alessia Olivieri, Nicolas Polli, Cyril Porchet, Virginie Rebetez, Philipp Schaerer, Prune Simon-Vermot, Jean-Vincent Simonet, Małgorzata Stankiewicz, Batia Suter, Charlie Tronchot, Patrick Weidmann, Manon Wertenbroek, Olivia Wünsche.
(Kuratiert von Nathalie Herschdorfer)

Lac des Taillères: «Naturel?»
Yuri Andries, Apian (Aladin Borioli), Juan Arias, Delphine Burtin, Céline Clanet, Charles Delcourt, Jean-Marie Donat, Hilairadou Dunuya-Niekissé et Ismaela Zrydaoré, Jin Lee, Catherine Leutenegger, Odile Meylan, Nelly Rodriguez, Tiina Törmänen.
(Kuratiert von Caroline Stevan)

MBAL: «Montagne Magique Mystique – eine Ode an die Natur»
Mauren Brodbeck, Rudy Deceliere, Ester Vonplon und Anastasia Samoylova
(Kuratiert von Nathalie Herschdorfer, William A. Ewing und Séverine Cattin)

 

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