Urs Tillmanns, 15. Januar 2022, 08:05 Uhr

Buchtipp: Jarryd Lowder «Stereoscopic Switzerland»

Oft bleibt von grossartigen Ausstellungen am Schluss nur noch ein Buch als Erinnerung. So auch im vorliegenden Fall: Vom 23. Juli bis 17. Oktober 2021 zeigte das Landesmuseum Zürich beeindruckende Stereobilder und passende Requisiten in der Ausstellung «Stereomania» (Fotointern berichtete). Jetzt ist das Buch dazu erhältlich, reichhaltig illustriert, mit Stereobetrachter und einer Fülle von Informationen über die dreidimensionale Fotografie aus der Zeit von 1860 bis etwa 1919 – und dies zweisprachig auf Deutsch und Englisch.

Um die Faszination der Stereofotografie zu begreifen, muss man sie selbst erlebt haben. Ihr Prinzip ist so älter als die Fotografie selbst. Sie ist durch deren Geschichte wellenartig immer mal wieder in Mode gekommen und dann wieder abgeklungen. Dabei haben findige Konstrukteure etwa alle Jahrzehnte neue Kameras und Betrachter erfunden, um die beiden durch den Augenabstand versetzten gleichzeitig aufgenommenen Bilder in einen räumlich-realistischen Bildeffekt zu zeigen. Vor mehr als hundert Jahren waren solche Bildpaare besonders gross in Mode und brachten ferne Städte und Länder, die dortige Lebensweise, die technischen Errungenschaften oder Märchenszenen abends an den Familientisch – eine visuelle Kommunikation, die man als Vorgänger des Fernsehens bezeichnen könnte.

Dass solche Bildpaare als Sammelobjekte beliebt sind, ist naheliegend. Auch der Schweizamerikaner Donald G. Tritt war von dieser Leidenschaft beseelt und hortete einen enormen Bestand an Stereobildern mit Schweizer Motiven. Was das Landesmuseum in ihrer Ausstellung gezeigt hatte, und was in diesem Buch zu sehen ist, ist nur ein kleiner Teil davon. Längst ist die Ausstellung abgebaut, und was bleibt ist dieses Buch über die schönsten stereoskopischen Bilder der Schweiz – und dies in einer hervorragenden, fotorealistischen Druckqualität. Einige besonders schöne Ansichten werden ganz- oder doppelseitig gezeigt und lockern so die Grafik des Buches auf.

Das Buch entführt uns in eine längst vergangene Zeit, mit Landschafts- und Städteansichten, die heute fast unglaublich scheinen, mit Gletscherzungen, die längst Steinwüsten Platz gemacht haben, mit Moden und Trachten, die wir heute kaum noch finden. Es ist nicht nur herausragend, was die Bildauswahl und die Präsentationsqualität anbelangt, sondern auch die Texte sind sehr informativ und behandeln die Thematik der Stereofotografie umfassend. Mehr noch: erstmals werden uns, nach fundierten Recherchen, die wichtigsten damaligen Bilderverlage vorgestellt. So erfährt man welche Geschichten sich hinter den bekannten Namen wie Underwood & Underwood, American Stereoscopic Co. oder Keystone View Co. verbergen. Die meisten davon waren ausländische Verlage, die von den Schweizer Landschaften begeistert waren und ein breites Sortiment von Stereokarten weltweit anboten.

Auffallend im Buch sind die vielen in natürlicher Grösse reproduzierten Stereobilder. Diese können, mit etwas Übung, mit Hilfe der mitgelieferten Stereolupe mit vollem Raumeffekt betrachtet werden. Interessant in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, dass viele der Bilder nach der Digitalisierung foto-restauratorisch verbessert wurden, was in einem speziellen Kapitel erläutert wird. Die Bilder erscheinen damit in einer Qualität, die bestmöglich den damaligen Originalen entspricht.

Für wen ist dieses Buch? Für alle, die sich von dreidimensionalen Bildeffekten faszinieren lassen, aber auch ein Flair für Geografie und die Geschichte der Schweiz haben. Für Freunde der Stereofotografie bietet es eine Fülle wichtiger und erstmaligen Informationen und hilft zu verstehen, weshalb jene Generationen von dieser Art der Fotografie über Jahrzehnte davon begeistert waren.

Urs Tillmanns

 

Buchbeschreibung des Verlages

Eine faszinierende Technik aus den Anfängen der Fotografie – «Virtual Reality» um 1900. Aussergewöhnliche, nie gezeigte historische Bilddokumente der Schweiz. Mit Stereobrille zum Betrachten der rund 100 Stereobilder. Die Stereofotografie ist ein um 1850 [schon vor der Fotografie, Anm. der Red.] erfundenes Verfahren zur Erzeugung dreidimensionaler Bilder. Deren Betrachtung durch einen eigenen Apparat ermöglichte es dem Publikum, die abgebildeten Gegenstände in atemberaubender Plastizität wahrzunehmen. Die Schweiz bot als frühe Tourismusdestination einen beliebten Fundus an Motiven für stereofotografische Aufnahmen. Besonders Firmen aus dem angloamerikanischen Raum produzierten Stereobilder mit Darstellungen von Schweizer Landschaften und Sehenswürdigkeiten für einen grösseren Markt. Das Buch gibt Einblick in die einzigartige Stereobilder-Sammlung des Schweizamerikaners Donald G. Tritt, die heute Teil der Sammlung des Schweizerischen Nationalmuseums ist. Mittels der beigelegten Stereobrille erscheinen inzwischen geschmolzene Gletscher, verschwundene Sehenswürdigkeiten und vor langer Zeit verstorbene Trachtenträgerinnen zum Greifen nah.

 

Der Inhalt

Vorwort (Jacques Pitteloud)

In die Schweiz blicken. Stereoskopisches Reisen zwischen Ersatz und Anreiz (Aaron Estermann)

Amerikas erster Blick auf die Schweiz: Wie stereoskopische Bilder vom Dach Europas ihren Weg in die neue Welt fanden

B.W. Kilburn. Kilburn Brothers

Underwood & Underwood

H.C. White Co.

R.Y. Young. American Stereoscopic Co.

W.H. Rau

C.H. Graves. Universal Photo Art Co.

L.C. Skeels. Stereo-Travel Co.

Keystone View Co.

Varianten

Handkolorierte Stereobilder

Lithos

Zur Restaurierung der Fotos

Nachwort: Donald Tritt, seine Sammlung und das schweizerische Amerika

Anhang: Anmerkungen, Bildnachweis, Dank, Autoren

Nachsatz: So betrachten Sie die Stereobilder in diesem Buch

 

Die Autoren

Jarryd Lowder (geboren 1968, Iowa City, USA), Hauptautor des Buches, interessierte sich schon als Kind für die Stereoskopie und sammelte leidenschaftlich Stereobilder von Manhattan zur Zeit der Jahrhundertwende. An der SVA NYC (School of Visual Arts) unterrichtete er 15 Jahre lang in den Fachbereichen Videoproduktion, Audiobearbeitung und digitale Musikkomposition: Er arbeitete freiberuflich für verschiedene Künstler und stellte seine eigenen Arbeiten in den USA, in der Schweiz, und in vielen Ländern Europas und in Asien aus. Seit 2014 lebt er in Glarus in der Schweiz als Fotograf, Journalist, Lehrer und Designer.

Aaron Estermann (geboren 1990, Luzern) studierte Geschichte und Medienwissenschaft an der Universität Basel sowie Visuelle Kommunikation und Bildforschung an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Nach einem Praktikum im Fotomuseum Winterthur arbeitete er als Grafiker und Filmassistent und betreut seit 2018 beim Schweizerischen Nationalmuseum die historischen Pressebildarchive sowie das Studienzentrum. 2020/21 kuratierte und leitete er die Ausstellung «Stereomania. Die Schweiz in 3D» (Landesmuseum Zürich).

Jacques Pitteloud (geboren 1962, Zürich) trat 1987 in den Auswärtigen Dienst der Schweiz und wurde 2019 zum Botschafter der Schweiz in den Vereinigten Staaten von Amerika ernannt. Er war erster Koordinator des Schweizerischen Nachrichtendienstes und arbeitete danach als Schweizer Botschafter in Kenia, Uganda, Ruanda, Burundi, Somalia und auf den Seychellen. Im September 2015 wurde er zum Direktor für Ressourcen des Schweizer EDA berufen. Er ist ein passionierter Vogelfotograf mit Veröffentlichungen in mehreren Büchern und Publikationen.

 

Bibliografie

Jarryd Lowder (Hg.) «Stereographic Switzerland»

184 Seiten, 164 teils farbige Abbildungen,
Format 22,5 x 28 cm, gebunden,
mit Stereobrille und Betrachtungsanleitung
erschien im November 2021.
Texte von Jarryd Lowder, Aaron Estermann und Jacques Pitteloud
Zweisprachig Deutsch/Englisch
Verlag Christoph Merian Basel
Preis: CHF 59.00 / EUR 58,00
ISBN 978-3-85616-960-2

Das Buch kann im Buchhandel erworben, beim Verlag direkt bestellt oder Im Ausland hier geordert werden.

 

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