Urs Tillmanns, 23. August 2025, 10:00 Uhr

Buchtipp: Andreas Seibert «Über Sehen Über Leben»

Die Coronazeit ist längst vergessen – aber nicht für alle. Hunderttausende in der Schweiz leiden an Spätfolgen und haben sich nie vor ihrer Atemnot und Erschöpfung erholt. Andreas Seibert hat das zum Thema gemacht und Long Covid-Betroffene fotografisch und mit ihren Krankheitsgeschichten porträtiert.

Covid – wir erinnern uns: Damals, als der Bundesrat empfahl «Bleiben Sie zuhause», als wir alle mit Schutzmasken herumliefen und die Restaurants geschlossen waren … Das ist alles längst passé, vorbei, vergessen. Doch nicht für alle. Noch immer gibt es Hundertausende in unserem Land, die unter Long Covid leiden, die mit Atemnot kämpfen und vor Erschöpfung noch immer nicht ihren normalen Lebensrhythmus gefunden haben. Und ihn vielleicht nie wieder finden werden …

Fotograf Andreas Seibert hat dieses Thema aufgegriffen, aber nicht nur fotografisch, sondern, was er daraus gemacht hat, ist schon fast eine Studie über Long Covid schlechthin. Etwa anderthalb Jahre, nachdem die Pandemie ausgebrochen und alles lahmgelegt hatte, fasste er den Plan jene Leute zu porträtieren, die als Langzeitopfer aus dieser Epidemie herausgegangen sind – die Long Covid-Geschädigten, ein Begriff, der zunächst weder von den Ärzten noch von den Behörden ernstgenommen wurde. Inzwischen wurden sie alle eines Besseren belehrt.

Andreas Seibert hat über eine Selbsthilfegruppe und Facebook mit Betroffenen Kontakt aufgenommen und ihnen sein Projekt unterbreitet. «Das Echo war fast durchwegs positiv, obwohl ich damit tief in ihre Privatsphäre der Leute eindrang», erinnert sich Andreas. «Da diese Krankheit oft nicht sichtbar ist, wollte ich untersuchen, ob und wie die Fotografie etwas festhalten kann, was sich vor der Kamera nicht wirklich realisiert. Andererseits vermutete ich, dass die hohen Infektionszahlen und die damit verbundenen postviralen Erkrankungen eine grosse Herausforderung nicht nur für das Gesundheitssystem, sondern auch für die Gesellschaft als Ganzes darstellen werden, was es fotografisch zu dokumentieren galt». So konnte Andreas in den darauffolgenden zweieinhalb Jahren fast 80 Leute in ihrem Lebensraum besuchen und sie porträtieren. Ergänzend dazu hat er von allen Informationen über ihren Krankheitsverlauf, untermauert mit Arztberichten, erhalten, die zu jedem Porträt im Buch enthalten sind. «Wichtig war mir, dass ich Betroffene aller Landesregionen, Gesellschaftsschichten und Altersklassen porträtierte, Frauen – die interessanterweise rund zwei Drittel ausmachten – und Männer, deren Leben sich seit der Pandemie völlig verändert hat».

Andreas ist bei seiner Arbeitsweise respektvoll und rücksichtsvoll vorgegangen, hat die Wünsche und den Gesundheitszustand der Porträtierten immer in den Vordergrund gestellt, um die Leute so zu fotografieren, wie sie sich in diesem Moment präsentierten. So ist eine völlig authentische fotografische Dokumentation entstanden mit eindrücklichen Bildern, aus denen körperlicher und seelischer Schmerz, Leid, Hoffnung und Enttäuschung, berufliche und finanzielle Ängste und Sorgen, Verlust von Freundschaften, Unterstützung und Liebe sprechen. Auf den Fahrten zu den Betroffenen in allen Landesteilen der Schweiz hat Andreas Landschaften fotografiert. Sie zeigen die Welt draussen – eine Welt, die für viele der Porträtierten unerreichbar geworden ist. Sie bilden eine visuelle Atempause, einen Kontrast zur Innenwelt der Betroffenen, und sind eine Erinnerung an das, was ihnen allzu oft fehlt.

Die Sprache der Bilder wird durch die ergreifenden Texte ergänzt, welche neben der beruflichen und familiären Situation der Personen deren Krankheitsbefall und -verlauf ebenso beschreiben, wie der langwierige Genesungsprozess und die langzeitlichen Erfolgschancen. Ergänzt wird das Werk durch drei wichtige wissenschaftliche Exposées von Prof. Kaspar Staub («Pandemien und postvirale Beschwerden. Ein selektiver Rückblick aus Schweizer Perspektive»), von Prof. Milo Puhan  («Was man bisher über Long Covid weiss») und Young EMERG («ME/CFS – Ursachen, Symptome. Auswirkungen»).

Eine weitere Ebene des Buches bildet der Austausch zwischen Andreas Seibert und der Betroffenen Cristina Amrein. Durch Gespräche, durch Text- und Sprachnachrichten entstand während eines Jahres aus ihren Gedanken eine poetische Stimme. Sie beginnt autobiografisch, dann umkreist sie grössere Themen wie das Kranksein, das Alleinsein, kritisiert auch die oft desaströse Situation vieler Betroffener und fordert Verbesserungen – um dann auch die Frage zu stellen: Was ist der Mensch? Diese Gedanken ziehen sich wie ein feiner Faden durch das Buch.

Mit dieser fotografischen Arbeit hat sich der Fotograf und Autor Andreas Seibert in ein unmittelbar menschliches und letztlich historisches Ereignis eingebracht. Er sieht dieses nun für sich als abgeschlossen an. Sein neues Fotoprojekt knüpft an seine grossen dokumentarischen Arbeiten wie «From Somewhere to Nowhere. China’s Internal Migrants» und «The Colors of Growth. China’s Huai River» an und wird die Themenfelder dieser Arbeiten an neuen Orten weiterführen und ausweiten.

Für wen ist dieses Buch? In erster Linie dürften sich Long Covid-Betroffene dafür interessieren, um darin die Gewissheit zu finden, dass sie mit ihrem Schicksal keineswegs alleine sind und um zu erfahren, wie andere mit ihrer Krankheit umgehen. Es ist aber ein ebenso wichtiges Buch für ein Gros der Gesellschaft, das sich für Long Covid und seine Folgen interessiert – und für jene, die dieser Krankheit und ihrer Erscheinungsbilder noch immer mit Zweifeln begegnen.

Urs Tillmanns

Buchbeschreibung des Herausgebers

Eineinhalb Jahre nach Ausbruch der Coronapandemie begann der Fotograf Andreas Seibert, Long-Covid- und ME/CFS-Betroffene zu porträtieren. Seine Motivation war einerseits die Frage, ob und wie die Fotografie etwas festhalten kann, was sich vor der Kamera nicht wirklich realisiert. Andererseits nahm er an, dass die hohen Infektionszahlen und die damit verbundenen postviralen Erkrankungen eine grosse Herausforderung für das Gesundheitssystem und für die Gesellschaft als Ganzes darstellen werden. So entstand, wie der Buchtitel dies andeutet, eine fotografische Arbeit über das Sehen und über das Leben.

Zweieinhalb Jahre ist Andreas Seibert durch die Schweiz gefahren und hat mehr als 80 Menschen fotografiert, die von postviralen Erkrankungen betroffen sind – langsam, einfühlsam, präzise, analog, der Fotografie immer dahingehend vertrauend, dass sie mit ihrer Sachlichkeit und Unbestechlichkeit feine Spuren, leichte Andeutungen der von der Erkrankung verursachten sozialen Verwerfungen in den Gesichtern der Betroffenen sichtbar machen kann.

In ausführlichen und detailreichen Texten hat Andreas Seibert die Geschichten der im Buch Porträtierten aufgeschrieben. Sie handeln von Leiden und Glück, Hoffnung und Enttäuschung, von beruflichen und finanziellen Ängsten und Nöten, von Freundschaften und Trennungen, von Unterstützung und Liebe; und sie beschreiben ein System, das Menschen in grosser Not zwar helfen soll, dieser Aufgabe aber aus unterschiedlichen Gründen allzu oft nicht gerecht wird.

 

Der Inhalt

Vorwort – von Andreas Seibert

Martina Bisaz (58) / Sophie Ade (20) / Christian Parolini (53) / Nora Künzler (21) / Arina Zalokar (15) /

Sina Kuhn (40) / Rosor Espiell Rossell (62) / Joya Booth (20) / Eliane Obrist (31) / Andrea Heurtemeur (62) / Carina Kunz (18) / Christian Salzmann (52) / Geneviève Morin (59) /

Corina Rong-Fournier (53) / Johana Beney (33) / Laura Merola (44) / Marc Halter (51) / Sybille Sanwald (49) / Monika Schmid-Kunert (60) / Nathaly Huber (33) / Alexander Bolli (30) / Ursina Brühwiler (41) /

Levi Fritsche (21) / Dejan Lauber (31) / Andrea Violi (53) / Cassandra Helfer (30) / Gloria Castro (49) / Julia Kläfiger (44) / Christine Carrillo (60) / Joana Gnägi ((33) /

Corinne Senn (45) / Dvoira Ben-Haim (40) / Vanessa Kleeb (47) / Edith Schwitter (55) / Jasmina Cattaneo (53) / Stefanie Klaiber (28) / Patricia Lang (32) / Manuela Bieri (41) / Sandra Schmutz (51) / Sandra Bigai (54) / Markus Gartmann (58) /

Dorothée Crettaz (43) / Martina Bachofen (39) / Corinne Baudet (46) / Myriam Forster (33) / Arnaud Siomet (52) / Alexandra Aellig (31) /

Sabine Walker (52) / Mirjam Lüscher (46) / Reto Stör (41) / Susanna Stalder (60) / André Gautsch (54) /

Jasmine Herbert (33) / Aline Rent (32) / Lukas Schwyler (30) /

Claudia Fuambi (44) / Nicolas Mumenthaler (40) / Cristina Piccioli (36) / Francesco Molo (51) / Sandrine Chapuis (52) / Chantal Britt (53) / Otmar Hilliges (44) /

Kai Hilliges (11) / Bruno Bucher (65) / Brigitte Post (61) /

Natascha Hagen (45) / Romea Bausch (48) / Katja Huser-Leonhard (55) /

Tiziana (48) und Aylin (14) Giannattasio / Estella Devonas (44)

Anhang

Pandemien und postvirale Beschwerden. Ein selektiver Rückblick aus Schweizer Perspektive – von Prof. Kaspar Staub

Was man bisher über Long Covid weiss – von Prof. Milo Puhan

ME/CFS – Ursachen, Symptome. Auswirkungen – von Young EMERG (European ME Research Group)

Glossar
Biografien
Danksagungen
Impressum

 

Der Fotograf

Geboren 1970 in Wettingen, studierte Andreas Seibert Germanistik und Philosophie an der Universität Zürich sowie Fotografie an der Hochschule der Künste in Zürich. Von 1997 bis 2013 lebte er in Tokio und arbeitete intensiv in der asiatischen Region mit einem Fokus auf China. Die japanische Fotografie hat sein Schaffen stark beeinflusst und spiegelt sich in seiner Herangehensweise wider, komplexe Themen wie die sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit, visuell auch in Kombination mit Texten zu erzählen. In seiner Fotografie verbindet er soziale Dokumentation, kritische Reflexion und visuelle Poesie. Sie fordert den Betrachter dazu auf, über die Konsequenzen menschlichen Handelns nachzudenken. Seine Arbeiten werden in zahlreichen internationalen Magazinen veröffentlicht und weltweit in Ausstellungen gezeigt.

«Wenn ich heute an die Corona-Pandemie zurückdenke, dann habe ich nicht das Gefühl, dass wir diejenigen gewürdigt haben, die wir verloren haben. Ich habe das Gefühl, dass wir es eilig hatten, diese Zeit hinter uns zu lassen, die im Rückblick wie ein schwerer, düsterer Traum erscheint. Die meisten von uns sind aus diesem glücklicherweise wieder aufgewacht. Für diejenigen aber, die sich von einer SARS-CoV-2-Infektion nicht erholt haben, geht er weiter.» Andreas Seibert

 

Bibliografie

Andreas Seibert «Über Sehen Über Leben» – A Photographic Document

440 Seiten, 95 Fotografien, Hardcover, Format 280 × 238 mm, Gewicht 2300g, 2025
Sprachen: Deutsch und Englisch
Texte: Andreas Seibert, mit Beiträgen von Prof. Milo Puhan, Prof. Kaspar Staub, Young EMERG,
und 23 authentischen Aussagen von Betroffenen, verfasst von Cristina Amrein
Herausgeber: e. V. Bridging Science and Society
Preis: CHF 48.00 / EUR 48,00
ISBN 978-3-033-11102-8

Das Buch kann im Buchhandel erworben oder direkt beim Autor (auf Wunsch signiert) bestellt werden.

 

Lesen Sie auch

• «Andreas Seibert: Leben und Arbeiten in Tokio», Interview auf Fotointern.ch, 3. Februar 2013

• «Im BelleVue Basel: Andreas Seibert – ‘Erd_reich’» Interview auf Fotintern.ch, 29. Oktober 2017

• Vis-à-vis-Beitrag auf BelleVue.ch Basel

 

Schreibe einen Kommentar

  • Kommentare werden erst nach Sichtung durch die Redaktion publiziert
  • Beachten Sie unsere Kriterien für Kommentare im Impressum
  • Nutzen Sie für Liefer- und Kontaktnachweise die Angaben im entsprechenden Artikel
  • Für Reparaturanfragen und Support bei Problemen wenden Sie sich bitte direkt an den Hersteller (siehe dessen Website) oder Ihren Händler
  • Beachten Sie, dass Fotointern.ch eine reine und unabhängige Informationsseite ist und keine Waren verkauft oder vermittelt
  • Ein Kommentar darf maximal 800 Zeichen enthalten.

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Noch 800 Zeichen

Werbung
Werbung

Abonnieren Sie jetzt Fotointern per E-Mail direkt in Ihr Postfach und verpassen Sie keine Beiträge mehr. Wir nutzen MailChimp für den Versand. Weitere Infos finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.