Urs Tillmanns, 30. März 2019, 08:57 Uhr

Buchtipp: Willy Spiller – Zürich 1967-1976

In der Galerie Bildhalle am Stauffacherquai in Zürich wurde vor wenigen Tagen die Doppelausstellung mit Willy Spiller «Zürich 1967-1976» und Fred Mayer «Zürcher Panoptikum» eröffnet. Fred Mayer, der Magnum-Fotograf, der für seine Länderreportagen und Ganzpersonenporträts bekannt ist, Willy Spiller, der Gesellschaftsfotograf, der mit einem fixierten Augenblick einer Strassenszene eine ganze Geschichte erzählen kann. Den Bildern von Willy Spiller hat Galerieinhaberin Mirjam Cavegn nun ein Buch gewidmet. Ein Erstlingswerk in der Edition Bildhalle in einer Kleinauflage von nur 500 Exemplaren, das wahrscheinlich schon bald vergriffen sein dürfte.

Willy Spiller beleuchtet in seinem Buch das Leben in Zürich eines knappen Jahrzehnts von 1967 bis 1976 – ein Jahrzehnt, in dem die Limmatstadt extrem in Bewegung war. Es war die Zeit der 68er-Bewegung, einer revolutionierenden Jugend, die sich mit neuen Prinzipien gegen das Establishment durchsetzen wollte – und schliesslich durchsetzte. Eine Stadt, die im Umbruch war und architekturmässig aufrüstete, Altes niederriss und Neues aufbaute. Nicht schöner, aber eben viel moderner. Verkehrswege, die für den rasch zunehmenden Verkehr breiter und schneller werden mussten – und heute auch schon wieder an ihrem Ende sind. Und Menschen, die in dieser ungestümen Zeit ihre eigene Zelle pflegten, ihren Freundeskreis im Niederdorf, in der Langgasse oder hinter dem Landesmuseum …

Die neun Jahre, welche Willy Spiller in der Ausstellung und jetzt in diesem Buch festhält, müssen ein Eldorado für den Zwanzigjährigen gewesen sein, der diese Szenen als Gleichaltriger miterlebte, der seine Kollegen, Freunde und Unbekannte fotografierte, die sich nichts daraus machten – ja wahrscheinlich sogar ihren Spass an Willys Treiben gehabt haben. Willy gehörte zu dieser Szene und Willy hat dieses fröhliche Treiben nicht nur mit seiner Kamera fleissig festgehalten, sondern er erzählt uns mit seinen Bildern spannende und unverblümte Geschichten …

«Menschen wollen und lieben Geschichten» schreibt Willy Spiller in seinem Nachwort. «Auf der Strasse erzählen sich die Geschichten wie von selbst. Die Strasse ist die grosse Endloserzählung des Lebens. Ich bin fasziniert von der Strassenfotografie. Denn das Reizvolle an meiner Arbeit als Fotograf ist und bleibt die Art und Weise, wie der Zufall Regie führt. Der Zufall ist der bestimmende Moment des Fotografischen.»

Die Bilder von Willy Spiller erzählen Geschichten – jedes einzelne seine eigene. Je länger man sich mit den festgehaltenen Szenen und Augenblicken gedanklich auseinandersetzt, je mehr man sich von seiner eigenen Fantasie in das Bild hinein verführen lässt, desto spannender wird die Geschichte. Geschichten, die wunderbar erzählt sind, fotografisch nicht immer perfekt, aber echt, so echt, wie das Leben eben ist.

Willy Spiller ist fasziniert von der Strassenfotografie – von einer Strassenfotografie, die vor fünfzig Jahren noch keine Gesetze und kein «Recht am eigenen Bild» kannte, mit Menschen, die sogar noch ihren Spass und Stolz hatten, dass ausgerechnet sie auf dem Bild sind. Eine echte und ehrliche Strassenfotografie, bei der nichts hinterfragt und genörgelt wurde.

Hinzu kommt der hervorragende Druck von Mirjam Cavegns Erstlingswerk, bei dem die ganze Tonalität der analogen Fotografien mit dem Charm des Korns und der satten Tiefen zum Ausdruck kommt. Eine echte Fotografie – so echt wie die Geschichten selbst …

Für wen ist dieses Buch? Diejenigen, welche jene Zeitepoche selbst in Zürich miterlebt haben, werden sich ebenso darauf stürzen, wie die Besucher der gegenwärtigen Ausstellung. Es ist ein Buch, welches das Leben in Zürich in einem besonders faszinierenden Zeitabschnitt dokumentiert, der hier in hervorragenden Fotografien verewigt ist – und in echten Geschichten …

Urs Tillmanns

 

Der Inhalt

Titelseite bis Seite 39
Titelseite: ln Ermangelung eigener Badezimmer: Hildegard Schwaninger lässt sich in der letzten öffentlichen Badestube der Altstadt waschen, Zürich, 1972
Von der Predigergasse zum Neumarkt. Dächer der Altstadt, 1971 / Spielplatz auf dem Fabrikgelände: Gaswerk Schlieren, 1973 / 1.-Mai-Demonstration auf dem Münsterplatz, 1968 / Jimi Hendrix wartet auf seinen Auftritt im Monsterkonzert vom 31. Mai 1968, Hallenstadion, / Hallenstadion nach dem Jimi-Hendrix-Konzert am 31. Mai 1968 / Volksolympiade, Turnhalle in Schwamendingen, 1972 / King’s Club, Striptease in der alten Börse, Talstrasse 25, 1974

Hinterhof im Kreis 4, 1970 / Pirouette vor dem Spielsalon, Brauerstrasse, 8004 1974 / In Ermangelung eigener Badezimmer: Hildegard Schwaninger lässt sich in der letzten öffentlichen Badestube der Altstadt waschen, 1972 / Feldstrasse im Kreis 4, 1970 / Fussgängerpassage am Tag der offenen Tür, Hauptbahnhof Zürich, 1975 / Sozialer Wohnungsbau, Triemli, 1974 / Kinder als Planespotter beim Pistenkreuz 14/16, Flughafen Kloten, 1973 / Leutschenbach-Quartier vor der Überbauung, 1973 / Gaswerk Schlieren, Schichtwechsel, in Schlieren, 1971 / Schrebergärten Herdern an der Aargauerstrasse, 1971 / Industriequartier, Hardau-Hochhäuser, Kreis 5, 1972 / Supermarkt «Shoppi Tivoli» vor der Eröffnung, Spreitenbach, 1970

Seiten 41 bis 77
Züchter mit preisgekröntem Tier an der 2. Europäischen Kaninchenausstellung, Züspa, 1973 / Tierpräparator H-J. W. mit Sohn und Exponaten. Zürich-Schwamendingen. 1973 / Sechseläutenumzug, Bellevue. 1972 / Ankunft tamilischer Flüchtlinge, Flughafen Kloten. 1974 / Salon Klick & Fick, Zwinglistrasse 28, 1973 / Zwillinge am Eidgenössischen Sängerfest, Fraumüsterkirche. 1973 / Spaziergang auf der Allmend, 1972 / Feldgang nach der Sonntagspredigt, Rümlang-Zürich, 1973 / Mit dem neuen Mofa an der Bahnhofstrasse, 1972 / Kino Kosmos an der Badenerstrasse 109, 1974 / Lady Shiva in der Zigarettenpause, Kontiki-Bar, 1975

Kino Roxy mit der ersten automatischen Klimaanlage der Schweiz, Zett-Haus am Stauffacher, 1969 / Nach der Polizeistunde, Beatengasse 4, 1968 / Volksfest vor der Eröffnung des Parkhauses Urania, 1973 / Zürcher Unruhen 1968, Von der Decke hängende Frau am «Sit-in» im Globus-Provisorium, 29. Juni 1968 / Er hat ein Moped gestohlen, Bellevue, 1974 / Demonstration für das Jesuitenverbot, Hauptbahnhof Zürich, 1973 / Zürcher Unruhen, Quaibrücke, Juni 1968 / Einsetzen eines neuen Schaufensters bei Modissa, Uraniastrasse, 1973 / Trottoirreinigung, Militärstrasse 42, 1970

Seiten 78 bis 109
Sicht von einem Kran über den Lindenhof zum See, 1973 / Bauarbeiten beim Lindenhof, 1972 / «Efeu-Hüsli», Brauer-/Hohlstrasse, 1970 / Strassenarbeiter an der Dienerstrasse, 1970 / Heimfahrt der Saisonarbeiter nach Italien, Hauptbahnhof Zürich, 1969 / Seilbahn Rigiblick, Halt auf Verlangen an der Goldauerstrasse, 1973 / Schulbesuch in den Werkstätten der SBB, Neugasse 145, 1971, / Personal des Restaurants Cooperativo, Militärstrasse 40, 1970 / Besucher vor dem Restaurant Revolution, Zwinglistrasse 35, 1969 / Lone-Star-Gang, Werdguet, 1972

Rocker Ketten-Keith, Kieswerk Hard, 1974 / Hells-Angels-Boss Tino am Helvetiaplatz, 1975 / Peter Sanders, Ex-Rocker, Restaurant Belcanto, 1975 / Studentin MvC auf dem Dach des Studentenheims an der Münstergasse 25, Zürich, 1973 / Spielsalon, Zürich-Oerlikon, 1974 / Doris mit ihrer MV Agusta, Dienerstrasse, 1970 / Zwei Frauen im Gespräch, Bezirksgericht, Stauffacherstrasse, 1969 / Passanten, Feldstrasse 147, 1972 / Öffentliches Pissoir im Shopville, 1974 / Zeitungsaushang an der Langstrasse, 1973

Seiten 111 bis 145
C. M., ältester Kellner im Hotel Gotthard, 1972 / Harmonikaspieler in der Simplon-Bar, Schützengasse 16, 1971 / «Oprandi », italienisches Spezialitätengeschäft, Bäckerstrasse 31, 1969 / Charly, legendärer Koch, Restaurant Brauerhalle, Brauerstrasse 4, 1968 / Stammtisch im Restaurant Pfeffermannli, Limmatplatz, 1969 / Restaurant «Räuberhöhle» (Tessinerkeller), Neufrankengasse 18, 1969 / David Weiss und Urs Lüthi spielen Huckepack vor ihrem Atelier, Stüssihofstadt 10. 1970 / Urs Lüthi, Künstler, Selbstbespiegelung im Atelier, Zürich-Seefeld, 1975 / Lady Shiva erteilt Sigmar Polke Schminktipps in der Ausstellung «Frauen sehen Frauen», Strauhof, 1975 / Bildhauer Hans Josephsohn vor seinem Atelier, 1979

Walter Pfeiffer, Künstler, Atelier Selnau, 1972 / David Weiss, Hirschenplatz, 1968 / David Weiss mit seinem Vishnu auf der Kloppstockwiese, 1969 / Ausflug der Freunde zur Halbinsel Ufenau, Rene Fehr und David Weiss, 1967 / Weidlings -Ausflug, Wehr bei der Werdinsel, 1973 / Max Frisch hinter dem Vorhang des Schauspielhauses Zürich; Verleihung des Grossen Schillerpreises, 12. Januar 1974 / Varlin verlässt Zürich, Atelier, Neumarkt 11, Zürich im Herbst 1972 / Paul Nizon, Dichter, 1967 / Federico Fellini, Premiere von «Amarcord», Kino Le Paris. Im Hintergrund Anna Keel, 1973 / Persische Kaiserin Farah Diba Pahlavi, Begrüssung durch die Bundesräte Hans-Peter Tschudi, Ernst Brugger und Rudolf Gnägi. Im Vordergrund Prinz Ali Reza, Kloten, 1975

Seiten 147 bis 184
Alfred Hitchcock im «Baur au Lac», 1972 / Verarzten des Krokodils im Zürcher Zoo, 1973, / Löwenkäfig im Zürcher Zoo, 1972 / Bühnenauftritt im «La Puce», 1969 / E.W., Herausgeber eines Kontakt-Magazins, mit Mitarbeiterinnen, 1973 / Bewerberinnen für ein Tanz-Engagement im «Crazy Horse» Paris, Birdwatcher-Club, Zürich, 1972 / Coiffeursalon für Damen, 1973 / Börse der Münzensammler, Volkshaus, 1972 / Autofriedhof Tognazzo, Werdinsel, 1975 / Jean-Louis, Tänzer mit seinem neuen Opel Rekord, Jägergasse, 1970

«Würger von Lissabon» gegen den «Blauen Engel von Paris»; «Catch-as-catch-can», Freistilringen im Hallenstadion, 1974 / Stützli-Sex-Chef Gody Müller präsentiert eine Mitarbeiterin, Brauerstrasse 30, 1976 / Krematorium, Friedhof Sihlfeld, 1975 / Stadtrat Edwin Frech beim Fitnesstraining in seinem Büro, Hochbaudepartement Zürich, 1974 / Pferderennen, Dielsdorf, 1972 / Sechstagerennen, Hallenstadion Oerlikon, 1969 / Tänzerin im «Mascotte», Preisverleihung eines Autorennens, 1974 / Tätowierungs-Kongress. Volkshaus, Zürich, 1976 / lrene vor der Fantasia-Bar am Rüdenplatz, 1971 / Hallenstadion nach dem Jimi-Hendrix-Konzert am 31. Mai 1968, 1968

 

 

Biografie

Willy Spiller (*1947. Zürich) hat sich als Fotoreporter einen Namen gemacht. Im Jahr 1968 schliesst er das Studium an der Schule für Gestaltung Zürich (heute ZHdK) mit einem Diplom ab. Während vieler Jahre reist Spiller durch die Weit, unterwegs mit Freunden aus Literatur und Kunst. Als Bildjournalist und freischaffender Fotograf arbeitet er seit 45 Jahren im Auftrag von weltweit führenden Zeitungen. Magazinen und Agenturen. Mit eigenständiger künstlerischer Handschrift und präzisem Blick bildet er schweizerische und internationale Persönlichkeiten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ab und dokumentiert gleichermassen die Schweiz. Für seine Ausland- und Inlandreportagen wird er mehrfach ausgezeichnet. Sein Schaffen umfasst Kunstfotografie, Bildjournalismus, Unternehmensfotografie und experimentelle Filme. Gerade diese Verschmelzung der Genres ist die grosse Qualität seiner Arbeit, seiner Haltung. Seine Neugier gilt der Veränderung, seien es gesellschaftliche Umbrüche oder solche der Ästhetik. Er liebt das visuelle Experiment. Mit seiner subjektiven Suche nach der Wahrheit – oft geht es dabei um Macht und Ohnmacht – verhilft Spiller der Dokumentarfotografie zu einem eigenen Stellenwert im aktuellen Kunstdiskurs. Willy Spiller lebt in Zürich.

 

Bibliografie

Willy Spiller: Zürich von 1967-1976
198 Seiten, 100 Schwarzweissbilder
gebunden, fester Umschlag
Texte: Stefan Zweifel, Carlo Spiller, Willy Spiller
Erstausgabe 2019, 500 Exemplare
anlässlich der Ausstellung in der Bildhalle,
Stauffacherquai 56, CH-8004 Zürich
Edition Bildhalle
Preis: CHF 75.00
ISBN 978-3-9525066-0-8
Das Buch kann in grösseren Buchhandlungen oder in der Bildhalle erworben werden.

Die Ausstellung in der Bildhalle dauert noch bis 11. Mai 2019

Hier geht es zu den Webseiten von Fred Mayer und Willy Spiller

 

 

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