Urs Tillmanns, 5. Mai 2024, 11:57 Uhr

Bieler Fototage «Commonplaces» – alles andere als alltäglich

Die diesjährigen Bieler Fototage stehen unter dem Motto «Commonplaces» und befassen sich mit alltäglichen Motiven und Themen, die alles andere als alltäglich fotografiert wurden und präsentiert werden. Die Bildserien behandeln sozialkritische Themen unserer Umwelt- und Klimaproblematik.

Die Bieler Fototage hinterfragen in ihrer 27. Ausgabe dieses Jahr das Banale, das Gewöhnliche, das Vertraute als Widerstand gegen die Ausbreitung sensationeller Bilder, die sich hartnäckig in unser Leben drängen, dies in einem Zeitalter, in dem Bilder zunehmend bewegter, immersiver, vielfältiger und fragmentierter werden. Das Festival präsentiert eine Generation von aufstrebenden Fotografinnen und Fotografen, die mit ihren Bildern auf Phänomene aufmerksam machen, die sich auf unsere Umwelt und unseren Alltag auswirken oder diese gar verändern.

Bilder des Banalen fordern uns auf, Dinge zu beobachten, die wir als gewöhnlich oder vertraut wahrnehmen, die aber dennoch von Bedeutung sind. Im Gegensatz zu den «lauten» Bildern, die sich uns durch ihre Unmittelbarkeit und ihr emotionales Potenzial aufdrängen, sind die Bilder der diesjährigen Ausgabe entschleunigt entstanden und bringen eine gewisse Zerbrechlichkeit von Sujet und Sinn zum Ausdruck. Unaufdringlich und zugleich poetisch zeigen sie eine Welt im ständigen Wandel.

 

Ein Rundgang mit Highlights der Bieler Fototage

Inès Mermoud «Os Crias», 2023

Inès Mermoud zeigt in ihren Bildern auf scharfsinnige und sanfte Weise den komplexen Alltag von Kindern, die in der gewalttätigen Atmosphäre der Favelas in Rio de Janeiro in Brasilien leben. Ihre farbigen Kinderporträts, die in einer der Künstlerin vertrauten Umgebung aufgenommen wurden, sind konstruiert und still. Der Begriff «cria» im Titel hat die gleiche Wurzel wie das portugiesische Wort für «Kind» und bezeichnet gleichzeitig die BewohnerInnen der Favelas.

 

Julien Heimann «En quête de sens», 2019 – 2023

Die Fotoserie von Julien Heimann konzentriert sich auf fünf geografische Gebiete, die zurzeit mit den Folgen des Massenkonsums konfrontiert werden. Er dokumentiert damit mit Ironie und Nachsicht durch menschliche Aktivitäten zurückgelassene vergängliche oder bleibende Gegenstände, die oft giftig sind und in unsere natürliche Umgebung eindringen. Heimann interessiert sich für die Kontraste, die durch zeitgenössische Konsumpraktiken hervorgerufen werden und hinterfragt mit Humor die Ungereimtheiten unserer heutigen Konsumgesellschaft sowie die Katastrophen, die diese Aktivitäten auf unserem Planeten anrichten.

 

Collectif Le Salon & Guests «Stammtisch», 2024

«Stammtisch» vom Collectif Le Salon und sieben Gastkünstlern untersucht die komplexe Symbolik traditioneller Begegnungsorte. Im Zentrum der Ausstellung steht ein runder Tisch, der als Kulisse für eine Auseinandersetzung mit dem Stammtisch als Ort des Komforts und der Kontroverse dient. Die Installation umfasst 15 Zeitungen, die jeweils das Konzept des Stammtisches künstlerisch interpretieren. Diese Zeitungen, ausgestellt in hölzernen Haltern, bieten Einblicke in den Stammtisch als Raum für intime Diskussionen, hitzige Debatten und gemeinsame Erfahrungen. «Stammtisch» ist nicht nur eine Ausstellung; es ist eine zum Nachdenken anregende Reise in das Wesen von Gemeinschaft und menschlicher Verbindung durch die Linse der zeitgenössischen Fotografie.

 

Tamara Eckhardt «Youth of the Island Field», 2019 – 2021

Wärend drei Jahren hat Tamara Eckhardt mehrmals St. Mary’s Park auf der King’s Island in der irischen Stadt Limerick besucht. Dies ist ein stark benachteiligter Stadtteil, in welchem grosse soziale Unsicherheit, Arbeitslosigkeit und Drogenabhängigkeit herrscht. Über ihre dokumentarischen Bilder, deren Kompositionen rigoros durchdacht sind, beschreibt Tamara Eckhardt auf positive Weise den Alltag der jungen Menschen in St. Mary’s Park, mit denen sie bei ihren Besuchen Beziehungen aufgebaut hat. Ihre Serie befasst sich mit Kindern, die dort unter schwierigen Verhältnissen aufwachsen, mit Vorurteilen und einer gewissen Perspektivlosigkeit zu kämpfen haben.

 

«Umkreis» von Nina Rieben im Espace Libre, 2024

Fragmente von Emotionen und Geschichten bilden die künstlerischen Ausgangspunkte von Nina Riebens Arbeit. Ihre Werke sind anekdotenhafte Zustandserzählungen, die sich um persönliche, alltägliche und romantische Gefühle im Kontext westlicher Denkweisen und kapitalistischen Realitäten drehen. Sachliche Fotografien treffen auf poetische Textfragmente, monochrome Flächen auf Figuration, Klein auf Gross und Tag auf Nacht. In ihren Arbeiten interessiert sich Rieben für einen ambivalenten Zustand, der Behauptung und Zweifel, Sinnlichkeit und Ironie vereint und zwischen Pathos und Leere oszilliert. Die Künstlerin bezeichnet diesen Zustand als «Romantik der Unsicherheit».

 

Lalie Thébault Maviel «Unser tägliches Brot», 2019 – 2022

«Notre pain quotidien» ist eine Art lückenhafte und subjektive Enzyklopädie des Brotes, die dessen politische, soziale, wirtschaftliche und ästhetische Entwicklung nachzeichnet. Die 156 Bildtafeln stellen ein kollektives Gedächtnis rund um dieses Grundnahrungsmittel dar, von seiner Herstellung bis zu seinen aussergewöhnlichsten Verwendungen. Auf den Tafeln werden thematisch, ohne hierarchische Gliederung, verschiedene Kulturen und ikonographische Darstellungen des Brotes zusammengefasst – ähnlich einer visuellen Archäologie. Die von der Künstlerin ausgewählten und zusammengestellten Bilder stammen aus verschiedenen Medien wie den sozialen Netzwerken, Kochbüchern, Lehrmitteln und audiovisuellen Archiven.

 

Alice Pallot «Algues Maudites, a sea of tears», 2022

Mit ihrer Arbeit interessierte sich Alice Pallot für die Verbreitung der Grünalgen an den Stränden der Bretagne, in Küstengewässern und bestimmten Flüssen – ein Phänomen, das seit vielen Jahren ausser Kontrolle geraten ist. Die Gründe für die Verbreitung dieser Algen, die inzwischen zu einem echten ökologischen und gesundheitlichen Problem geworden ist, sind Rückstände aus der Intensivlandwirtschaft und die Klimaerwärmung. Ihr dokumentarisches Werk mit Science-Fiction-Zügen nimmt eine Zukunft vorweg, die die Bewohnbarkeit der Erde ohne oxisches Leben und somit ohne Sauerstoff in Frage stellt.

 

M’hammed Kilito «Kafila», 2020 – 2023

M’hammed Kilito interessiert sich für die Anstrengungen, die für die Wahrung, Verbesserung und langfristige Entwicklung von Wüstenoasen unternommen werden. Das Fotoprojekt Kafila («Höhle» auf Arabisch) beleuchtet komplexe und vielschichtige Fragen im Zusammenhang mit dem Zerfall der Oasen und den Auswirkungen dieses Phänomens auf lokale Traditionen und den Lebensunterhalt der Menschen in den Regionen Maschrek und Maghreb in Westasien und Nordafrika. Als stiller Beobachter fotografiert M’hammed Kilito diese Oasen als Zufluchtsorte für die Biodiversität mit ihren zahlreichen Besonderheiten, ihrem reichen Kulturerbe, ihren ergiebigen Ressourcen, aber auch gewissen alarmierenden Tatsachen wie die wiederkehrenden Dürren, die Ausbeutung natürlicher Ressourcen und die Landflucht.

 

Léa Habourdin «Images-forêts», 2020 – 2023

Léa Habourdin dokumentiert die Nachkommen der französischen Primärwälder und hinterfragt die Beziehung des Menschen mit Gebieten, die vermutlich nie gerodet oder bewirtschaftet worden sind. Die Künstlerin präsentiert eine Serie von dokumentarischen Fotografien dieser Wälder, die sie mithilfe von aus Pflanzen gewonnenen Pigmenten gedruckt hat. Die monochromen und in Pastelltönen gehalteten Prints zeigen eine geisterhafte Transparenz, die uns an die Zerbrechlichkeit des Sujets erinnert und die BetrachterInnen einlädt, sich auf diese Orte einzulassen, die man sich unberührt vorstellen möchte. Die Künstlerin hinterfragt mit ihren Bildern die Darstellung der Landschaft und ihre Vergänglichkeit und präsentiert eine Installation aus mit Bildern bedruckten Stoffen.

 

Luca Massaro «A Spasso», 2024

Die Installation in der Altstadt von Biel ist der erste Teil einer Reihe von enzyklopädischen Sammlungen von Wörtern, die Luca Massaro in den vergangenen zehn Jahren fotografiert hat. Sein Archiv mit über 1000 Fotos von Wörtern bilden das Rohmaterial für seine Installationen und stellen eine visuelle dreidimensionale Poesie dar, die durch die Bildaufnahme geglättet und anschliessend manuell auf unbearbeitete aufgespannte Leinwände aufgedruckt wird. In einer Zeit, in der die Fotografie allgegenwärtig ist und die Schrift verschwindet, hält das Werk von Luca Massaro die konfliktreiche Hybridisierung von Ikonotexten bildlich fest.

 

Matthew Genitempo «Jasper», 2018

Matthew Genitempo hat weitläufige unberührte Flächen und Einsiedler fotografiert, die sich dafür entschieden haben, in den dichten Wäldern der Ozark Mountains an der Grenze zwischen Arkansas und Missouri zu leben. Zu Besuch in ihren behelfsmässigen Behausungen hat der Fotograf den Alltag dieser Menschen geteilt, deren Bedürfnis nach Einsamkeit sie miteinander verbindet. Monatelang ist er in ihr physisches und mentales Umfeld eingetaucht und hat sie kennengelernt. Die geheimnisvollen Bilder erkunden eine Faszination für die Flucht und die Bewegung der Survivalists. Bei dieser Arbeit wird das Medium Fotografie als Mittel verwendet, um ans Licht zu bringen, was tief im Inneren der Wesen verborgen ist.

 

Laurence Kubski «Big Fish», 2021 – 2022

Laurence Kubski hat sich für ihre Bilderserie intensiv mit Branche des Aquariumfischhandels befasst und dokumentiert deren Akteurinnen und Akteure von lokalen Geschäften, über die weltweit wichtigsten Grosshändler, Tierärzte, die die Importe an der Grenze kontrollieren, bis hin zu den Fischern in Indonesien, dem grössten Exportland von Aquariumfischen der Welt. Die Bilder führen das Publikum hinter die Kulissen dieser komplexen Industrie und zeigen das Paradox dieser Miniatur-Meeresumgebungen, die zu einem rein ästhetischen Vergnügen aufwändig nachgebildet werden. Diese Industrie lässt die Fremdbestimmung von Lebewesen zu und stört dadurch ein ganzes Ökosystem.

 

Pedro Rodrigues «Movement in the Alpine Landscape», 2019 – 2024

Pedro Rodrigues interessiert sich seit mehreren Jahren für die Auswirkungen menschlicher Aktivitäten auf die alpine Landschaft und ihr Ökosystem. Ausgangspunkt seines Werks bilden die geologischen Veränderungen in den Bergen. Der Künstler untersucht vom Klimawandel verursachte Phänomene wie Steinschläge, Erdrutsche, das Tauen des Permafrosts und die Erosion. Neben diesen extremen klimatischen Ereignissen, die immer häufiger werden, beobachtet er auch die Lösungen, die der Mensch in der Landschaft anbringt, um diese Bedrohungen vorherzusehen, abzuschwächen oder einzudämmen.

 

Schule für Visuelle Gestaltung Bern und Biel, 2024

Die Schule für Visuelle Gestaltung Bern und Biel präsentiert in der Residenz au Lac mehrere verschiedenartige Bilderserien, die unter der Anleitung ihres Lehrers Alexander Jaquemet von den Studierenden der 2. Fachklasse Grafik im letzten Jahr ausgearbeitet wurden. Zum Gesamtthema der Bieler Fototage passend zeigen die Arbeiten zwar alltägliche Situationen, die jedoch von den Fotografinnen und Fotografen auf eigene, fantasievolle Art und Weisen erfasst worden sind. Banales zu erkennen und originell zu fotografieren und zu präsentieren, ist das Leitmotiv dieser Ausstellung – passend zu den diesjährigen Bieler Fototagen.

 

Was ist wo?

Die Bieler Fototage dauern noch bis 26. Mai 2024 und erstrecken sich mit 23 Ausstellungen von Fotokünstlerinnen und Fotokünstlern aus elf Ländern über elf Ausstellungsorte in der Stadt Biel.

Alle Informationen dazu finden Sie unter https://bielerfototage.ch/de/

 

Was? Bieler Fototage 2024
Wann? Vom 3. bis zum 26. Mai 2024
Mo – Fr: 12.00 – 18.00; Do: 12.00 – 20.00; Sa – So 11.00 – 18.00
Montag und Dienstag geschlossen
Wie viel? 1-Tages-Pass: CHF 20.- / 15.-; 2-Tages-Pass: CH 25.- / 18.-; Abonnement: CHF 30.- / 20.-; Gratis: bis 16 Jahre / Kultur GA; Gruppe (ab 10 Personen): CHF 10.- pro Person
Empfang und Billettverkauf in 2 Nebia, 3 Photoforum Pasquart, 6 NMB Haus Schwab und 9 Le Grenier

 

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