Urs Tillmanns, 21. Mai 2022, 11:23 Uhr

Buchtipp: «Italy 1900 – ein Porträt in Farbe»

Das Buch verblüfft: Italien um 1900 – und alles in Farbe. Dabei gab es damals noch keine populäre Farbfotografie! Nur wenige Pioniere experimentierten mit Verfahren, die nicht kommerzialisierbar waren. Des Rätsels Lösung: Die Originalaufnahmen zu diesem Buch – und damals zu einer Modeströmung von Postkarten und Farbdrucken– waren in Schwarzweiss und wurden von Hand koloriert. Das Verfahren, Photochrom genannt, stammte unter anderem aus der Schweiz und wurde massgebend von Jakob Schmid bei Orell Füssli in Zürich (Firma Photoglob, später Photochrom Zürich) zur Industriereife entwickelt.

Zur Herstellung von Photochrom-Drucken wurde ein Schwarzweissnegativ auf einen mit einer Asphaltmischung überzogenen Lithostein belichtet. Dabei wurde der Asphalt an den belichteten Stellen härter, während die unbelichteten weichen Asphaltstellen mit einem Lösungsmittel abgewaschen und danach geätzt werden, damit sie keine Druckfarbe mehr aufnahmen. Auf diese Weise wurde für jede Farbe eine Druckform erstellt und entsprechend eingefärbt. Danach wurde eine Farbe nach der anderen passgenau auf das Papier gedruckt. Ein sehr kompliziertes, rasterloeses Druckverfahren also, das in selten Fällen auch heute noch angewandt wird.

Das Verfahren gehörte rund ein Jahrhundert lang zu den besten Farbdrucken, wobei dessen Blütezeit von 1890 bis zum Ersten Weltkrieg dauerte – in der Zeitepoche also, in der die Bilder zu diesem Buch entstanden. Allerdings, die Farbe in diesen Bildern, und auch gewisse kompositorischen Details, waren nicht das Resultat eines fotografischen Verfahrens, sondern sie entstammten der Fantasie des Lithografen, der die verschiedenen Druckträger, die für ein Bild erforderlich waren, mit viel Geschick manuell bearbeitete. Das hatte seine Tücken, denn abgesehen von Gemälden oder mündlichen Erklärungen gab es keine Vorlagen, wie sich die Farben in natura präsentierten. Auch setzte der Lithograf da und dort ein interessantes Detail ein, eine Person zum Beispiel, eine Gruppe von Leuten oder ein Dampfschiff, um das Bild interessanter zu gestalten – auch wenn die Grösse oder die Perspektive manchmal nicht ganz so passten. Dieses manuelle Einwirken macht denn auch den Charm dieser Bilder aus. Wir farbverwöhnten Betrachter erkennen wohl, dass es sich um manuelle Technik handelt – damals jedoch, als es noch keine populäre Farbfotografie gab, war jedes Photochrom-Bild eine Sensation.

Vor diesem Hintergrund ist das Buch eine Augenweide. Es verblüfft nicht nur auf Grund der Technik und der einzigartigen Farbcharakteristik der Photochromes, sondern es zeigt uns die verschiedenen Regionen und Städte Italiens, wie sie sich vor120 Jahren präsentierten. Es sind bildliche Dokumente, welche die damaligen Städteansichten zeigen, die sich käumlich mit den heutigen vergleichen lassen. Sie zeigen das Leben von damals, welche einen harten Alltag ohne irgendwelchen Luxus erahnen lassen. Die Bilder versetzen uns in die Zeit vor der Industrialisierung, haben das damals übliche Gewerbe- und Markttreiben auf Plätzen und in Gassen zum Inhalt und führen uns die Mode und die Kleidungskultur von damals vor.

Abgesehen von naturbelassenden Landschaften finden sich in dem Buch auch viele Städteansichten, die für Photoglob im Zeichen des aufstrebenden Tourismus ein einträgliches Geschäft waren: Es entstand ein Boom von Postkarten, die nun plötzlich farbig und «nach der Natur» gemacht waren. Weiter sind die Ansichten berühmter Bauwerke aller italienischen Städte ein Fundus, der bei architektur- und geschichtsinteressierten Leserinnen und Leser auf grosse Beachtung stossen dürften. Zwar kennen wir diese gigantischen Bauwerke aus heutiger Sicht, doch überraschen die hundertjährigen Bilder mit vielen Details, welche dem Zahn der Zeit zum Opfer gefallen sind. Das Buch ist aber nicht nur Bildband. Es wird durch regionsbezogene Einleitungstexte aufgelockert, und die ausführlichen und gut recherchierten Bildlegenden machen die Betrachterinnen und Betrachter noch auf viele Einzelheiten aufmerksam, die man sonst übersehen würde.

Für wen ist dieses Buch? Es deckt die vielfältigsten Interessen ab, von fotohistorisch Interessierten, über Kultur- und Architekturbeflissene bis hin zu Italienfreuden und -kennern, die auf den 580 Seiten und geschätzten doppelt so vielen Bildern noch viel Spannendes und Unbekanntes entdecken dürften. Für Italien-Liebhader ist der Band eine Fundgrube, und ebenso ist es für solche als Geschenk geeignet.

Urs Tillmanns

 

Buchbeschreibung des Verlages

Als die Fotografie im 19. Jahrhundert auf den Plan tritt, die Träume verfrorener Nordlichter von Italien als, je nach Perspektive, unsterbliches Kunstland der wiederentdeckten Antike oder glückselige Naturlandschaft zu bebildern, und den Vedutenmaler und das eigene Skizzenbuch ablöst, ist Italien noch ein Agrarstaat. Erst 1861 nach einer Reihe von Aufständen und Kriegen aus einem Patchwork von Fürstentümern und Kleinstaaten zur Nation vereint, tut sich das Land schwer mit der Industrialisierung, die sich weitgehend auf den Großraum Mailand, Turin, Genua beschränkt. Von 30 Millionen Einwohnern sind 1880 etwa gerade einmal 400’000 Industriearbeiter.

Die zahlreichen Reisenden aus Frankreich, England, Deutschland oder den USA – der Massentourismus steht gerade im Begriff, das Erbe von Grand Tour und Romantik anzutreten – treffen auf eine Bevölkerung, die noch weitgehend im jahrhundertealten Traditionalismus befangen ist, auf scheinbar unberührte Landschaften wie den malerischen Lago Maggiore mit seiner eindrucksvollen Bergkulisse, die ligurische Küste oder die einsame Campagna und Städte, Venedig, Florenz, Bologna, Mailand, Rom, die seltsam entrückt und traumverloren leer wirken.

Wie Reiseberichte aus vergangenen Jahrhunderten laden auch die Aufnahmen in diesem Band zu einer Entdeckungsfahrt durch die Zeit ein. Sie folgen der klassischen Besichtigungsroute kunstbeflissener Italienfahrer*innen, nehmen aber auch die soziale Wirklichkeit im Schatten der Monumente und Sehenswürdigkeiten in den Blick. Ein historisches Panorama, das nicht nur erklärte Italienfans fesseln wird.

 

Der Inhalt

Einleitung – Träume von Italien in Farbe

 

Die Alpen, Turin, Mailand und die Seen

 

Venedig und Venetien

 

Triest und die Dolomiten

 

Genua und die Rivieras

 

Emilia, Toskana und Umbrien

 

Rom und Umgebung

 

Neapel und Umgebung

 

Sizilien

 

Appendix
Index / Biografien / Danksagungen

 

Der Autor

Giovanni Fanelli ist Professor für Architekturgeschichte an der Universität Florenz und Autor zahlreicher Bücher zu architekturhistorischen und stadtgeschichtlichen Themen sowie zur Kunst der Graphik und der Fotografie, die in mehrere Sprachen übersetzt wurden. Er war wissenschaftlicher Leiter der Fondazione Ragghianti in Lucca und ist Herausgeber mehrerer Buchreihen des römischen Verlags Laterza.

 

Die Herausgeber

Der Grafikdesigner, Fotograf und Sammler Marc Walter (1949–2018) hatte sich auf alte Reisefotografien, vor allem Photochrome, spezialisiert, von denen er eine der grössten Sammlungen weltweit besass. Er hat zahlreiche Bücher mit Bildern aus seiner Sammlung und eigenen Fotografien veröffentlicht.

Sabine Arqué ist Bildredakteurin, Herausgeberin und Autorin. Sie hat an zahlreichen Publikationen zu Reisethemen sowie zur Geschichte des Tourismus und der Fotografie mitgewirkt.

 

Bibliografie

«Italy 1900. A Portrait in Color»

580 Seiten, ca 1200 farbige Abbildungen
Hardcover und Schutzumschlag, Format 25 x 34 cm, 3,67 kg
Texte von Giovanni Fanelli, Marc Walter, Sabine Arqué
Dreisprachig Deutsch, Englisch, Französisch
Verlag Taschen GmbH Köln
Preis: CHF 75.00 / EUR 60,00
ISBN 978-3-8365-9197-3

Das Buch ist im Buchhandel erhältlich, kann beim Taschen-Verlag direkt bestellt oder hier im Ausland geordert werden.

 

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