Vera Rüttimann, 15. August 2021, 10:36 Uhr

Der Berliner Mauer auf der Spur

Vor 60 Jahren schnitt eine 150 Kilometer lange und 3,6 Meter hohe Doppelmauer, dazwischen ein Todesstreifen, die Stadt Berlin entzwei. Sie brachte den Menschen auf beiden Seiten Schmerz, Ausweglosigkeit, Verlust und forderte während 28 Jahren unzählige Todesopfer. Seit 32 Jahren ist die Mauer wieder Weg – die Schmerzen bleiben. Die Schweizer Fotografin Vera Rüttimann lebt seit 1990 in Berlin und hat die allmählich verschwindenden Reste der Mauer während drei Jahrzehnten zu ihrem Thema gemacht. Ihre Bilder sind ein eindrucksvolles Mahnmal der Unmenschlichkeit.

 

Abgerissen. Ein Stück Berliner Mauer, das zur Eastside-Galerie gehörte, (20.10.1999)

Neugierige Touristen schauen durch die Seeschlitze der Hinterlandmauer an der Bernauer-Strasse. (20.10.2003)

«Am 13. August 1961 wurde in Berlin die Mauer errichtet. 28 Jahre lang teilte sie von diesem Tag an die Stadt in zwei Hälften. In Ost- und West-Berlin. 60 Jahre später muss man die Mauer in Berlin mit der Lupe suchen. So rasch, wie sie an diesem Augusttag 1961 errichtet wurde, so radikal und schnell verschwand sie nach deren Fall am 9. November 1989 aus dem Stadtbild. Für Leute, die sich mit der Kamera nicht sofort in den Zug setzen konnten oder eh vor Ort waren, stellte dies eine grosse Herausforderung dar. Noch heute beneide ich Fotografen wie beispielsweise Gilles Peress, die ikonische Fotos vom Mauerfall und den Tagen danach machen konnte.

 

«Vaterland» an der Eastside-Galerie. (20.10.1998)

Mein erstes Mauerbild nach meiner Ankunft in Berlin. Reste der Berliner Mauer an der Stresemann-Strasse in Berlin-Mitte. (20.05.1990)

Mein Foto-Abenteuer der Berliner Mauer begann am 23. Mai 1990, als ich per DDR-Visum aus der Schweiz anreisend Ost-Berlin betreten konnte. Was sich mir präsentierte, elektrisierte mich: vom Krieg beschädigte Häuser, entsorgter Hausrat auf den Strassen und wilde Hasen im einstigen Todesstreifen, der sich wie eine breite Schneise durch die Stadt zog. Über allem der Geruch von Russ. Es war, als beträte ich den Mond – so fremd war das alles. Und berauschend. Der Fall der Berliner Mauer war für mich das Tor zu einer neuen Welt.

 

Zersägt. Mauersegmente werden für den Bau von Hotels an der Eastside-Galerie herausgehauen. (13.10.2013)

Rest einer Mauer-Krempe in einem Hinterhof in Berlin-Mitte. Sie diente als Mauerabschluss und verhinderte das Überklettern der Mauer (20.05.2011)

«Das Loch». Die Berliner Mauer an der Niederkirchner-Strasse ist von «Mauerspechten» durchlöchert worden, (20.10.2004)

Das erste Stück Mauer, das ich im Mai 1990 sah, war das bereits von ‚Mauerspechten‘ angeklopfte Stück an der Niederkirchnerstrassse am Berliner Abgeordnetenhaus.

Schnell entdeckte ich das lang gezogene Reststück an der Mühlenstrasse in Friedrichshain, das später als die ‚East Side Gallery‘ weltberühmt wurde. Es wurde von Künstlern aus aller Welt gekapert, die Motive hinterlassen haben, die heute ikonisch sind: ‚Vaterland‘, ‚Bruderkuss‘ oder ‚Test the Best‘.

 

Mauerreste in Schönheit erstarrt. Eastside Galerie, (20.07.2007)

Mauer-Kunst III, gepflegte Graffiti an der Eastside-Galerie. (20.07.2020)

Die Bilder und Graffiti-Tags machen dieses Stück Mauer zu einer Freiluftgalerie, die von immer neuen Generationen von Berlin-Besuchern mit ihren Codes bekritzelt wird. Die Eastside-Gallery ist allerdings heute aufgrund des Baubooms dort kaum noch wiederzuerkennen.

 

Baumboom entlang der Eastside-Galerie mit provokativer Werbung der russischen Fluggesellschaft Aeroflot. (13.10.2013)

Mahnspruch «Time isnt passing» auf den Mauersegmenten auf einer Brache in der Chausseestrasse, (20.05.2013)

Sehr unter die Haut gingen mir die Kommentare, die in der Nachwendezeit an Mauersegmenten geschrieben wurden. ‚Alles wird besser, aber nichts wird gut‘, ‘Time isnt passing‘, ‘Madness‘ oder schlicht: ‘Nie wieder!‘. Geschrieben im Jahr 1992 an eine Info-Tafel über die Mauer am Reichstag.

 

Noch unverbaut. Reste der Berliner Mauer an der Eastside-Galerie, (20.05.2004)

Der Kolonnenweg in der mauerfreien Bernauserstrasse, wo einst die Grenzer patrouillierten. (20.05.2001)

Es gab auch Zeiten, in der sich Bürgerinitiativen gegen das Verschwinden der Mauerteile in der Innenstadt wehrten. So etwa am Potsdamer Platz. ‘Wir sind das Volk‘ prangte da auf einem Plakat an der Mauer. Überhaupt Plakate. In Kombination mit Mauerteilen ergeben sich bis heute spannende Kontexte.

 

Halt am «Beach-Mitte» an der Caroline-Michaelis-Strasse 8, wo zu der Zeit ein langes Stück der Hinterlandmauer zu sehen war. (21.08.2012)

Die Mauerfragmente an der Gedenkstätte «Topographie des Terrors» an der Niederkirchnerstrasse wurde 1990 unter Denkmalschutz gestellt. (04.11.2019)

Viele Jahre war für aufmerksame Beobachter der Mauerverlauf und Todesstreifen in der Stadt noch zu erkennen. So etwa in der Bernauer-Strasse, wo sich an 13. August 1961 die erschütterndsten Szenen abgespielt haben. Vor einem lag etwas, das ein breites, ausgetrocknetes Flussbett erinnert. Zuerst dokumentierte ich dort den ‘Kolonnenweg‘, wo einst die Grenzer patrouillierten. Dann die abrissreifen Häuser, aus denen später die Edelhäuser der Neureichen wurden.

 

Ich fotografiere oft mit der Holga-Kamera und bleibe damit unbemerkt. Die unperfekten Bilder passen zur Morbidität der Berliner Mauer.

Häufig fotografierte ich auch mit der Holga, einer russischen Billigkamera mit einer Plastiklinse, mit der ich nicht als Fotografin auffiel. Limitierte Lomo-Filme, Lichteinfall und ein sich wellender Film beim Transport ergeben surreal anmutende, ‘unperfekte‘ aber eindrucksvolle Bilder. Für mich ist das bis heute der passendste Look für diese Mauer und die unfertigen Seiten dieser Stadt. Mehrfach belichtet, zerrissen, mehrdeutig – wie diese Stadt.

 

Zersägt: Die Mauergedenkstätte an der Bernauer-Strasse, (20.10.2003)

Manchmal treffe ich auf Steifzügen durch die Stadt auch kleine Dinge, die unscheinbar vor sich hin rotten. Für mich, die als Kind Archäologin werden wollte und Ammoniten sammelte, stets ein Glücksgefühl. Ein solch eines ist beispielweise der Fall, wenn ich auf diese typischen Krempen stosse, die einst die Mauer oben abrundeten und so die Mauer unpassierbar machten. Oder Teile einer ‘Peitschenlampen‘, die den Todesstreifen einst ausleuchteten, den man sogar vom Weltall aus noch sah. Solche Dinge fristen heute nicht selten viel bestaunt als Deko-Teil in Clubs ihr Dasein.

 

Reste der Berliner Mauer an der «Gedenkstätte Berliner Mauer», Bernauer-Strasse, mit einem der legendären «Trabis». Fotografiert mit der Holga-Kamera. 

Trabant-Safari-Agentur in der Zimmerstrasse in Berlin-Mittte, wo einst die Mauer durch lief. Die einstigen Billigautos sind zum Kultobjekt geworden.  (04.11.2019)

Auch wenn das cool ist, stimmt es mich auch traurig und nachdenklich. Ob Mauersegmente, Hinterlandmauer oder Krempe – all diese Elemente haben Spuren hinterlassen bei denen, die unter dem Honecker-Regime gelitten hatten. Nie darf man das vergessen! Es hat mich wütend gemacht, als an der Eastside-Gallery Segmente für Bauprojekte herausgerissen wurden. Die restlichen Mauerteile müssen als Gedenkort und Mahnmal des Kalten Krieges erhalten bleiben. Sie stehen für Entbehrung, Trennung und Freiheitsberaubung. Aber auch für friedliche Revolution, für den Durchhaltewillen und den Aufbruch nach Neuem.»

Text und Bilder: Vera Rüttimann

Lesens Sie auch:
«Vera Rüttimann: Kastanienallee Berlin 1990 bis 2020» (Fotointern 04.10.2020)

Vera Rüttimann

Geboren (1968) und aufgewachsen ist Vera Rüttimann in Wettingen AG. Seit 1990 lebt sie in Berlin im Stadtteil Prenzlauer Berg. Als Fotografin und Journalistin bearbeitet sie aktuelle Themen sowie Langzeitprojekte zur fortlaufenden Veränderung des Stadtbildes. Seit einigen Jahren pendelt Vera Rüttimann zwischen Berlin und Zürich und arbeitet in Form von Fotografie und Text für deutsche und Schweizer Medien. Mit ihren Bildern beteiligt sie sich an Fotofestivals und an Kunstmessen. «Berlin Timescape» und «Berlin by Holga» gehören zu ihren fotografischen Langzeitprojekten.
www.veraruettimann.com / www.berlinbyholga.com

Zum Thema Berliner Mauer

Bekannte Mauer-Fotografen

Vor 60 Jahren begann der Bau der Berliner Mauer. Eines der bekanntesten Bilder entstand zwei Tage nach diesem Ereignis: Das Foto «Sprung in die Freiheit» entstand am 15. August 1961 in Berlin. Der damals 20-jährige Fotograf Peter Leibing fotografierte Conrad Schumann, einen 19-jährigen DDR-Polizisten) in dem Moment, als er über Stacheldraht sprang und aus der DDR floh.

Es gibt viele bekannte Fotografen, die bis 1989 und darüber hinaus die Mauer zum Thema haben. Eine Auswahl:  Robert Conrad, Tom Stoddart, Manfred Hamm und André Rival. Nicht zu vergessen Maurice Weiss (Ostkreuz), Jürgen Ritter und Daniel Biskup. Spannend sind auch Gerd Rückers geheime Mauer-Fotos von der Ost-Seite her. Die Berliner Mauer ist eines der meist fotografierten Bauwerke. In Berliner Privathaushalten lagern wohl noch tausende unentdeckte Fotoschätze zu diesem Thema.

Aktuelle Fotoausstellungen

«Sacrow – Das verwundete Paradies»: Ausstellung im Schloss Sacrow. Der malerische Ortsteil in Potsdam, der fast ausschließlich von Wasser umgeben ist, war in der DDR Sperrgebiet. Die Ausstellung erzählt vom Leben der Bewohner im Schatten der Mauer. 7. August bis 9. November 2021, Krampnitzer Strasse 33, Potsdam.

«Mauerfilme» – Filmfest im Mauerpark Im Mauerpark werden das gesamte kommende Wochenende über 60 Filme unter freiem Himmel gezeigt, darunter Dokumentationen, Archivaufnahmen und Kurzfilme. Programm: www.mauerbau.berlin, 13. bis 15. August 2021, Gleimstrasse 55, Prenzlauer Berg.

Fotoausstellung von Alexander Kupsch Gezeigt werden Mauer-Fotomontagen, die das historische und das gegenwärtige Berlin vereinen. 13. August bis 1. Oktober 2021, Potsdamer Platz, Berlin-Mitte

«be part of it!» in der East Side Gallery Kreative Workshops und Gespräche über die Zukunft der East Side Galery. 14. August 2021, 16 bis 19 Uhr, und 15. August 2021, 11 bis 14 Uhr, Mühlenstrasse 60, Berlin-Friedrichshain.

 

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