Gastautor/-in, 13. März 2022, 10:00 Uhr

Die letzten Tage vor dem Krieg in der Ukraine

Der bereits seit mehr als zwei Wochen andauernde Krieg in der Ukraine beschäftigt uns täglich – und ein Ende dieses Konflikts ist nicht in Sicht. Jemand, der die Ukraine sehr gut kennt und dort gute Freunde hat, ist Jens Krauer. Er hat das Land mehrfach bereist, hat die Stimmungen der Leute erlebt und ist unmittelbar vor den Ausbruch des Krieges zurückgekehrt. Seine Bilder zeigen das Leben im Donbass, wie es heute wahrscheinlich nicht mehr ist.

 

Fotointern: Du bist kurz vor Kriegsausbruch aus dem Dombass zurückgekommen, der ursprünglichen Krisenregion des Krieges in der Ukraine. Welches war Deine Motivation für diese Reise, und wie lange warst Du dort?

Jens Krauer: Ich habe eine persönliche und lange Beziehung zu der Ukraine. Vor Jahren habe ich in Kiev gelebt und gearbeitet, habe Freunde im ganzen Land und kenne die ukrainische Mentalität und Kultur aus erster Hand und selber gelebtem Alltag. Seit über acht Jahren bin ich regelmässig immer wieder im Land und fotografiere das Leben in der Ukraine aus diversen Blickwinkeln. Mit der sich ankündigenden Eskalation des schon lange schwelgenden Konfliktes war der Fokus für diese Reise auf dem Donbass. Mit einer vollen Invasion hat zu diesem Zeitpunkt im Januar 2022 niemand gerechnet, wahrscheinlicher waren schwere und vermehrte Konflikte in der Region und Donetsk und Luhansk. Ich war mehrere Wochen in der Ukraine und habe davon einen Grossteil an der Kontaktlinie in der Region Donbass mit einer ukrainischen Einheit verbracht.

 

Wie hast Du vor Deiner Reise die Situation im Dombass  eingeschätzt und wie war die Realität?

Die Realität war nahe an meinen persönlichen Vorstellungen. Der Donbass, auf beiden Seiten der Front, ist kriegsgezeichnet von einem jahrelangen Konflikt der sich, vor der heutigen Position der Kontaktlinie, über grosse Teile der Region bewegt hat. Seit einigen Jahren war die Konfliktlinie relativ stabil im Rahmen eines aktiven aber definierten Kriegsgebietes. Ein langer und immer wieder intensiver Stellungskrieg, in dem in den letzen Jahre primär die eingenommenen Positionen gehalten wurden. Direkt hinter der Kontaktlinie leben Menschen, die schon mehrfach über die Jahre ihre Häuser wiederholt repariert haben, Städte wieder aufgebaut haben und im täglichen Bewusstsein leben, das der nächste aktive Konflikt nur eine Eskalationsstufe weg liegt.

 

Der Donbass war und ist politisch gespalten, in russlandfreundliche Separatisten und der ukrainischen Militäraufsicht. Hast Du davon als Fotograf etwas mitbekommen?

Dieser Umstand prägt die ganze Region, das Leben aller Bewohner und seit dem Kriegsausbruch die ganze Ukraine. Es ist das dominierende Thema im Donbass, und zeigt sich überall. Während die Menschen versuchen, weiter ein normales Leben inmitten dieser Situation zu führen, sprechen die Zerstörung und der Zerfall eine eindeutige Sprache was war und jederzeit wieder sein kann. Weit über die Kontaktlinie ist das Land gezeichnet von brutalen Gefechten und menschlichen Verlusten, sowohl im militärischen als auch im zivilen Kontext. Der Krieg hat die Region ausgelaugt. Aus dem Blickwinkel eines Fotografen sind die visuellen Zeugen dieses Zustandes allgegenwärtig und nicht zu übersehen.

 

Wie hast Du dort gelebt, und konntest Du Dich frei bewegen? Hattest Du dort Bezugspersonen, wie Guides und Dolmetscher, zur Verfügung gehabt?

Meine Kontaktpersonen waren Teil einer Einheit welche direkt an der Kontaktlinie mit den Separatistengebieten stationiert sind. Ich habe über mehrere Wochen mit den Soldaten ihren Alltag geteilt. Die Kommunikation funktioniert mit etwas Englisch, einigen Worten Ukrainisch, Respekt und einem Verständnis für Gesamtsituation. Eine Grundregel: «When we run you run, when we go down, you go down, that’s it». Lange bevor ich die Zusage erhielt durchlief ich verschiedene Prozesse unter anderem eine Sicherheitsabklärung der Behörden. Ich hatte einen erstaunlich grossen Handlungsspielraum für meine Arbeit vor Ort.

 

Wie war Dein Kontakt zur Bevölkerung? Wie leben die Menschen im Donbass?

Die Bevölkerung in der Region Donbass ist gezeichnet von einem jahrelangen auslaugenden Krieg. In den Städten und Dörfern ist Zerstörung allgegenwärtig. Menschen wurden zu Überlebenskünstler und leben geprägt von Pragmatismus. Es kommt immer wieder zu Situationen, bei denen in unmittelbarer Nähe Mörsergranaten einschlagen, und die Menschen bewahren stoisch ihre Ruhe. Am Ende bleibt ihnen keine Wahl als das beste aus der Situation zu machen. Die Region ist sehr geprägt von Armut, eingeschränktem Bewegungsspielraum und die Situation verschlechtert sich ständig.

 

 Hast Du mit den Leuten auch politische Fragen diskutieren können?

Ja, das ist prinzipiell kein Problem. Im Alltag der Ukrainer wird offen und direkt über Politik debattiert. Als Fotograf der dokumentiert ist es nicht meine Aufgabe eine politische Meinung zu äussern oder eine Seite zu ergreifen. Ich bin dort um den Menschen zuzuhören.

 

Wie hat die Bevölkerung – wie hast Du – die Kriegsgefahr wahrgenommen? War sie für die Menschen damals schon ein Thema.

Kurz vor der Invasion hat sich die Stimmung im Land merklich geändert. Während wir im Januar noch relativ entspannt auf die Gesamtsituation geschaut haben, stieg im Februar die Kriegsangst. Sowohl die Zivilbevölkerung als auch das Militär hat sich merklich angefangen vorzubereiten. Die Aktivitäten haben zugenommen, während die Strassen leerer wurden. Überall waren Menschen zu sehen, welche ihre Fenster und Häuser mit Wassertanks, Holzbrettern und anderen zweckdienlichen Dingen versucht haben zu schützen.

 

Gibt es besondere Erlebnisse, die Du von dieser Reise mitnimmst?

Definitiv. Man baut natürlich menschliche Beziehungen auf. Bei der Verabschiedung von diesen Menschen in eine ungewisse Zukunft entstanden intensive emotionale Momente, die ich mit nach Hause nahm.

 

Bist Du fotografisch auf die Rechnung gekommen?

Ich sehe diese Bildstrecken als Langzeitprojekt und plane weitere Reisen in die Ukraine in naher Zukunft. Im Grundsatz geht es mir darum diese Zeit in der Ukraine festzuhalten und die Ukraine fotografisch zu begleiten auf diesem Weg.

 

Bei einer solchen Reportage ist eine möglichst kompakte Ausrüstung eine wichtige Voraussetzung. Was hast Du in den Dombass mitgenommen?

Ich hatte eine Basis in Kiev, wo mein Koffer blieb. Bei meinen Reisen in den Osten war es ein einzelner 45L-Rucksack in dem alles verstaut war was ich für zwei bis drei Wochen brauche. D.h. zwei Fujifilm GFX 100s, vier GF Objektive, 14 Akkus sowie diverses Zubehör und dann ein sehr pragmatisches Set an Kleidung und persönlichem Material. Das Prinzip ist: alles was man braucht, trägt man griffbereit am Körper. Man kann sich jederzeit schnell und auch unmittelbar bewegen. Kein unnötiger Ballast und immer ready sein. Die zwei Fujifilm GFX 100s habe ich parallel benützt und mit zwei verschiedenen Objektiven konstant am Körper getragen.

 

 War das Fotografieren problemlos, und liessen sich die Leute gerne fotografieren?

Es ist eine Frage des Vertrauens und der persönliche Beziehungen. Nach einer kurzen Zeit des Einlebens war ich sehr frei zu fotografieren. Jede Situation ist individuell. Je länger man mit einer Kamera um Menschen herum ist, desto mehr gewöhnen sie sich an die Situation. Je mehr Vertrauen entsteht, desto problemloser kann fotografiert werden.

 

Du bist so ziemlich im letzten Moment zurückgekehrt. Wie verlief Deine Rückreise?

Kurz vor meiner Abreise, ich war noch im Donbass, wurden die ersten internationalen Flüge gecancelt, darunter auch meiner. Das Gerücht kam auf, dass der reguläre Flugverkehr in den nächsten Tagen eingestellt würde. Ich hatte es dann noch geschafft einen Flug zu buchen und konnte an einem der letzten Tage des regulären Flugverkehrs das Land verlassen. Mir wurden zwei verschiedene Flugdaten angeboten, der zweite war am Morgen des 24. Februar, der Tag der Invasion. Ich hatte mich für den früheren Flug entschieden, ansonsten hätte ich das Land nicht mehr ohne entsprechenden Aufwand verlassen können. Am Flughafen war die Spannung sehr spürbar, viele Menschen, lange Schlangen, Botschaftsmitarbeiter die dringend repatriiert wurden, Expats, Ukrainer und viel Unsicherheit bei Wartenden und Gestrandeten. Nach dem Abflug, war ich in drei Stunden in Paris –  eine ganz andere Welt, eine ganz andere Realität.

 

Du hast Dich im Kriegsgebiet aufgehalten und verfolgst nun die laufende Berichterstattung. Was bewirkt diese bei Dir und wie schätzt Du die Zukunft des Dombass und der Ukraine ein?

Seit dem ersten Tag der Invasion bin ich intensiv in Kontakt mit Freunden in der ganzen Ukraine. Viele Informationen fliessen an den News Kanälen vorbei. Direkte Updates kommen vom Boden in den betroffenen Gebieten und sind oft ungefiltert und sehr brutal. Man sorgt sich um Freunde, die davon berichten das in ihrer unmittelbaren Nähe Raketen einschlagen, fragt ob Freunde ärztlich versorgt wurden wenn sie Verletzt werden. Man verfolgt die News und überlegt wie nahe oder fern die aktuellen Kampfhandlungen und Beschuss von einem lieben Menschen sind. Man versucht zu helfen, wenn es darum geht Familien und Kinder ausser Landes zu bringen, und hofft jeden Tag etwas zu lesen oder zu hören von den Menschen. Die Frage ist selten; «wie geht es dir», eine einfache Frage, die zu gross wird, das heisst übertragen «bist du noch am Leben oder in Lebensgefahr?». Man redet über Konkretes und versucht vor allem moralisch beizustehen soweit das möglich ist.

 

Ich kann keine Prognose darüber abgeben, welche die Zukunft der Ukraine bevorsteht und wie ein möglicher Lösungsansatz zur Beilegung des Krieges ausstehen könnte. Das wichtigste im Moment, aus meiner Perspektive, ist dass das Sterben so schnell als möglich beendet wird und effiziente Hilfe geleistet wird.

 

Text und Bilder: Jens Krauer

Spenden für die Ukraine

Für Spendengelder empfiehlt Fotointern die Aktion der Glückskette
Postkonto 10-15000-6, https://www.glueckskette.ch/

 

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