Urs Tillmanns, 2. September 2023, 15:11 Uhr

Ausstellungs-Impressionen der «Rencontres de la Photographie» in Arles

Die 54. Rencontres de la Photographie in Arles sind während drei Monaten im Jahr das wichtigste Fotofestival Europas. Die rund 50 Ausstellungen von international bekannten Fotokünstler/innen und Newcomern sind noch bis 24. September 2023 in der Stadt Arles und an einigen Aussenstellen zu sehen.

Die Rencontres de la Photographie in Arles sind das grösste Fotofestival Europas. An mehr als 30 Orten in der Provence-Metropole und vielen anderen Städten in der Region, finden mehr als 50 Fotoausstellungen zu den verschiedensten Themen von international bekannten Fotokünstler/innen oder auserwählten Newcomern statt. Auch wenn die Eröffnungswoche vom 3. bis 9. Juli 2023 ein besonderes Highlight war, weil dann die meisten der ausstellenden Fotografinnen und Fotografen vor Ort präsent waren, lohnt sich der Besuch auch im Nachhinein bis am 24. September 2023 noch. Fotointern hat einige der Highlights für Sie besucht.

 

Saul Leitner: Assemblages

Saul Leiter sieht seine Welt wie kleine Bildfragmente, die aneinandergelegt und zusammengenäht werden können, die sich stapeln und immer grössere Flächen bilden. Als Maler und Fotograf nimmt keine Rücksicht auf Grenzen. New York, das Paradigma der Moderne, diese Stadt, die Tag und Nacht den Takt schlägt, wird fast sechzig Jahre lang zum Ort seiner kleinen ästhetischen Entdeckungen und der fotografischen Kreationen. Die Ausstellung, die zum ersten Mal in Arles gezeigt wird, vereint eine Auswahl von grösstenteils unveröffentlichten Fotografien, Zeichnungen und Gemälden und lädt uns dazu ein, ein Werk zu entdecken, in dem die Sprachen nebeneinander stehen, einander antworten, sich unterhalten und uns die Weltsicht eines der faszinierendsten Künstler und Fotografen des 20. Jahrhunderts vorführen.

 

Agnes Varda: La Pointe courte, des Photographies au film

Agnès Varda hat eine besondere Bindung zu ihrer Geburtsstadt Sète und ging nach dem Zweiten Weltkrieg bis Anfang 1960 jedes Jahr dorthin zurück. Sie hielt mit ihrer Rolleiflex Freunde, Segelboote und die Kais der südfranzösischen Stadt fest und vermachte uns so Bilder von Szenen, die es heute nicht mehr gibt. Interessant sind zudem die gezeigten Kontaktbogen, welche Aufschluss darüber geben, wie Agnès Varda ihre Bilder ausgewählt hat. Zudem hat sie mit geringen Mitteln denn Film «La Pointe Courte» gedreht, der eine künstlerische Unabhängigkeit zeigt, welcher mit den Filmcodes seiner Zeit bricht und als Vorläufer der Nouvelle Vague bezeichnet werden darf.

 

Wim Wenders : Mes amis Polaroid

Ende 1976 drehte Wim Wender den Film «The American Friend» mit Bruno Ganz und Dennis Hopper in Hamburg und Paris. Polaroidkameras waren damals das Äquivalent zu den heutigen Smartphones, um besondere Augenblicke mit analoger Technik festzuhalten. Wenders fotografierte verschiedene Drehorte und heftete die Polaroids dann an die Wand des Produktionsbüros, aber auch seine Schauspieler während der Proben und während der Dreharbeiten. Auch in der Geschichte selbst benutzte Dennis Hopper in der Rolle des verwirrten Tom Ripley eine Polaroidkamera. Der Schauspieler wurde schliesslich zum «amerikanischen Freund», so dass Wenders den Titel des Films änderte, der eigentlich «Framed» (Fallensteller) heissen sollte.

 

Casa Susanna

Im Jahr 2004 entdeckten zwei Antiquitätenhändler auf einem Flohmarkt in New York 344 Fotografien aus den 1950er und 1960er Jahren. Das Besondere an diesen Bildern ist, dass die abgebildeten Männer als Frauen verkleidet sind und dass ihre weibliche Identität die der «ehrbaren» Hausfrau, des Mädchens von nebenan oder der Dame vom Dienst ist. Hinter diesen Bildern verbirgt sich in Wirklichkeit ein riesiges Netzwerk von männlichen Transvestiten. Sie sind verheiratet, gute Familienväter aus der weissen amerikanischen Mittelschicht. Sie sind Ingenieure, Linienpiloten oder Beamte in Bundesbehörden. Sie verkörpern den amerikanischen Traum. Und seinen Albtraum. Denn das Amerika dieser Jahre ist auch das Amerika der Segregation, der Rassen-, Geschlechter- und politischen Segregation.

 

Charles Fréger: Aam Aastha

In Indien ist Charles Fréger von 2019 bis 2022 einem Pantheon mit tausend Gesichtern begegnet: Gottheiten sind hier Legion und verkörpern sich bei heiligen Aufführungen, die in Tempeln, Theatern und auf den Strassen stattfinden. Je nach Region, ethnischer und religiöser Gemeinschaft, aber auch je nach aktuellen Ereignissen, werden die Götter für die Dauer der Maskerade neu dargestellt und die sozialen Rollen neu verteilt. «Aam Aastha», dessen Titel auf diese «gemeinsamen Andachten» verweist, hält diese auffälligen Avatare fest und enthüllt das maskierte Spiel der Darstellungen zwischen Machtverstärkung und Subversion in einem politischen Kontext, der von einem nationalistischen Hinduismus dominiert wird, der dazu neigt, die althergebrachten Praktiken zu vereinheitlichen.

 

Yohanne Lamoulère: Les enfants du fleuve

«Les Enfants du fleuve» ist ein Projekt, dessen Ausgangspunkt die Entdeckung einer Insel im Rhône-Delta in der Camargue ist. Nachdem sich Yohanne Lamoulère dort mehrere Monate aufgehalten hatte, führte die Marseiller Fotografin 2020 in Port-Saint-Louis-du-Rhône sowie in Marseille Workshops über den subjektiven Begriff der Insellage durch und beschloss, mit einem selbstgebauten Boot in Etappen gegen den Strom vom Mittelmeer bis zum Rhône-Gletscher fahren, um ein Gebiet von 812 Kilometern Länge zu dokumentieren. Die Fotografin hat eine Porträtgalerie angelegt, in der man volkstümlichen und wundersamen Figuren begegnet.

 

Juliette Angel: La main de l’enfant

Juliette Agnel erkundete mit ihrer Kamera die prähistorischen Höhlen von Arcy-Sur-Cure, die seit der Altsteinzeit bewohnt waren und Höhlenmalereien beherbergen, die auf ein Alter von etwa 28’000 Jahren datiert werden. Die Grotten von Arcy sind lebendige Räume, die sich ständig verändern, sei es durch natürliche Kräfte wie die Kristallisationen des kalkhaltigen Wassers, die Böden und Decken formen, oder durch menschliche Einwirkungen, die ihre Spuren hinterlassen haben. Diese anthropisierte Umgebung beherbergt Darstellungen von Tieren und eine Reihe von Zeichnungen von Händen aus der Vorgeschichte sowie Graffiti aus jüngerer Zeit. Die Hand des Kindes, ein Negativdruck einer kleinen Hand, könnte als eines der ersten existierenden Selbstporträts angesehen werden. Diese Spur spricht uns aus der Vergangenheit an und erinnert uns durch ihren indexikalischen Charakter an die Ursprünge der Fotografie.

 

Portraits – Collection Florence et Damien Bachelot

Das Musée Réattu öffnet zum ersten Mal in seiner Geschichte seine Räume einer Privatsammlung. Die Sammlung von Florence und Damien Bachelot umfasst fast tausend Porträts der humanistischen, dokumentarischen und sozialen Fotografie von Anfang des 20. Jahrhunderts bis heute. 120 Werke wurden zum Thema Porträt ausgewählt, die zwischen den Gemälden und Skulpturen er regulären Sammlung des Museums ausgestellt sind. Auf die grossen amerikanischen Fotografen (Diane Arbus, Saul Leiter), die französischen Fotografen (Robert Doisneau, Brassaï) und die absoluten Ikonen –  Young boy von Paul Strand, Lella von Édouard Boubat –  folgen neuere Erwerbungen (Luc Delahaye, Laura Henno), welche die Dynamik der Sammlung widerspiegeln, die heute stärker auf das zeitgenössische Kunstschaffen ausgerichtet ist.

 

Nicole Gravier: Mythes et Clichés

Nicole Gravier erforschte die Möglichkeiten die Fotografie als Instrument zur Analyse und Entschlüsselung anonymer, ärmlicher oder populärer Bilder aus Fotoautomaten oder von Postkarten. Diese veranlassen sie zu ironischen Verfremdungen der Kunstwelt und der Stellung der Frau, wie zum Beispiel in «Mythes et clichés», ihrer Serie von Pastiches italienischer Foto-Romane, in denen sie sich selbst inszeniert. Anhand von Archivmaterial und unveröffentlichten Werken bietet die Ausstellung die Möglichkeit, Aspekte von Nicole Graviers Karriere und ihrem Werk aus den 1970er und 1980er Jahren wiederzuentdecken, die der breiten Öffentlichkeit bislang unbekannt waren, die aber aufschlussreich für die neue Verwendung der Fotografie und die Wege von Künstlerinnen in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg sind.

 

Søsterskap: Photographies contemporaines nordiques

Søsterskap hebt die entscheidende Rolle hervor, die mehrere Generationen von Fotografinnen in den nordischen Ländern gespielt haben, indem sie den Wohlfahrtsstaat aus einem intersektionalen feministischen Blickwinkel betrachten. Dieses System hat wesentlich zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Bevölkerung beigetragen und zeichnet sich durch einen öffentlichen Sektor aus, der seinen Bürgern Sicherheit und soziale Dienstleistungen, einschliesslich Kinderbetreuung und Bildung, bietet. Søsterskap vereint verschiedene Fotografinnen aus Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden, die seit den 1980er Jahren aktiv sind, deren Ansätze von der Dokumentarfotografie bis zur konzeptionellen Fotografie reichen, um den sozio-politischen Kontext des Wohlfahrtsstaates zu untersuchen.

 

Entre nos murs – Teheran, Iran 1956-2014

Beim fotografischen Forschungsprojekt handelt es sich um eine Erzählung, welche die Geschichte eines Hauses im nördlichen Teil von Teheran nachzeichnet. Das Gebäude wurde Ende der 1950er Jahre von einem Mann aus der Mittelschicht gebaut, der vor der Islamischen Revolution von 1979 aus dem Land flüchten musste. Haus und Besitz wurden in der Hoffnung auf eine baldige Rückkehr zurückgelassen, die jedoch nie stattfand. Die Ausstellung zeigt Fotos von Haushaltsgegenständen, Publikationen, Korrespondenz und Fotos, die von der Familie hinterlassen wurden. Die meisten Elemente konnten vor der Zerstörung des Hauses im Jahr 2012 bewahrt werden. Dieser Lebensraum symbolisierte den Modernisierungsprozess und die radikalen Veränderungen der iranischen Lebensweise in den 1950er und 1960er Jahren, eine Entwicklung, die bis heute nachhallt.

 

Lumas Campus Arles

Eine besondere Attraktion des heutigen Arles ist das «Arts Resource Building» der Maja Hofmann-Stiftung. Der 56 Meter hohe Turm besteht aus 11’000 Edelstahl-Kacheln und sieht sich als «Experimentelles Kulturzentrum, das die Beziehungen zwischen Kunst, Kultur, Umwelt, Menschenrechten und Forschung hinterfragt». Er steht im südöstlich der Stadt gelegenen Luma Arles-Campus neben sechs ehemaligen und jetzt für Events genutzte Industriehallen der SNFC und beherbergt Forschungs- und Referenzeinrichtungen, Workshop- und Seminarräume sowie Künstlerateliers und Präsentationsräume. Zur Zeit der Rencontres sind darin und in den Nebengebäuden Foto Ausstellungen von Diane Arbus, Agnes Varda und Ahlam Shibli zu sehen.

Text und Stimmungsbilder: Urs Tillmanns

 

Praktische Infos

Was? Internationales Fotofestival «Les Rencontres de la Photographie» in Arles (F)
Wo? Ganzes Stadtgebiet Arles, (sowie Einzelausstellungen in Aix-en-Provence, Avignon, Le Puy-Sainte-Réparade, Nîmes, Saint-Rémy-de-Provence, Marseille)
Wann? Ausstellungen noch bis 24. September 2023
geöffnet täglich vom 10:00 bis 19:30 Uhr
Wie viel? Dauerkarte EUR 39/32 (online) EUR 42/34 (Kasse), (EUR 35/28, bzw 37/30 ab 28.08.2023)
Tageskarte EUR 32/27 (online) EUR 34/29 (Kasse), (EUR 30/25, bzw EUR 32/27 ab 28.08.2023)
Website Französisch oder Englisch  

Download der Karte als pdf

 

 

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