Urs Tillmanns, 3. Februar 2024, 10:00 Uhr

Buchtipp: Andrea Knechtle «Vestiges – Das Ende von Etwas»

Mit «Vestiges», den Spuren der Vergangenheit, nimmt uns Andrea Knechtle mit in die Welt des Zerfalls und der Herrenlosigkeit einst prunkvoller Villen und Schlösser. Sie hat diese in Deutschland, Frankreich, Italien, Portugal und der Schweiz aufgesucht und zeigt uns eine Pracht von damals mit eindrucksvollen Bildern.

Lost Places ist in den letzten Jahren zu einer populären und beliebten Sparte der Fotografie geworden. Dieses Morbide, Zerfallene, diese unwirkliche Welt des Zeitlaufs und der materiellen Zersetzung fasziniert, wirft Fragen auf, die unsere Fantasie beflügeln und nie beantwortet werden können.

Was ist es, das Andrea Knechtle und ihre Schwester Nadja bewegt Tausende Kilometer mit ihrem Camper zurückzulegen, fremden Grund zu betreten und sich in baufällige Gebäude zu begeben? Ein Kribbeln, ein mulmiges Gefühl, ja etwas Angst ist immer dabei, wenn undefinierbare Geräusche die Stille durchbrechen, wenn der knarrende Boden plötzlich etwas nachgibt und wenn der Wind ein Fenster zuschlägt und man glaubt es wäre noch jemand da. Der Hausbesitzer? Ganoven, Junkies? Oder gar Gespenster? «Wir lieben das leise Kribbeln der Nerven, das Ächzen in den Angeln, wenn sich uns eine Türe oder ein Fenster fast einladend öffnet» schreibt Andrea in ihrem Intro. «Wir lieben das Knarren von morschem Holz unter den Füssen, wenn uns der abgestandene Moder aus lange unbegangenen Räumen entgegenschlägt.» Man kann diese Gefühle nachempfinden, die in der Einleitung zu diesem Buch so treffen beschrieben werden. Und man beginnt diese Faszination zu verstehen – auch wenn man diesen Schauder nicht unbedingt selbst erleben möchte.

Die Bilder sind einerseits Dokumente von Zuständen des Zerfalls von einst luxuriösen Villen und Palästen, anderseits vermitteln sie jene Emotionen, welche Andrea und Nadia bei ihren Exkursionen verspürt haben. Und sie geben uns Einblick in die verblichene Zeit der Bourgeoisie und des Luxus von damals, als die Noblesse hier lebte und ihre Feste feierte. Tempi passati …

Vestiges – die Spuren der Vergangenheit oder als das Überbleibsel könnte man es übersetzen. Vestiges, das immer mehr zerfällt und für unsere Fotografin immer faszinierender wird. Der Drang, diesen eigenartigen Sujets nachzugehen ist stärker als die Vernunft und endet in einem Rausch nach noch mehr Fotos und nach noch mehr eindrucksvollen Bildern. Andrea will uns eine Welt zeigen, die jetzt noch Realität ist – aber vielleicht bald nicht mehr …

Die Bilder sind Zeitdokumente – gelungene Zeitdokumente. Sie zeigen einerseits das Können der Fotografin, düstere, lichtarme Räume und hohe Kontraste perfekt wiederzugeben, anderseits hat sie ein Auge für Details, die nicht der Rede wert sind – aber eines Bildes. Diese Mischung von Gesamtansichten, von Interieurs, Strukturen und vergessenen Objekten gestaltet das Buch abwechslungsreich und spannend. Untermalt wird das Ganze mit Texten des Journalisten Markus Maeder, der subtil auf Besonderheiten in den Bildern hinweist oder mit geschichtlichen Hintergründen aufklärt und so der persönlichen Fantasie auf die Sprünge hilft.

Für wen ist dieses Buch? Die Fangemeinde der Lost Places-Fotografie wird immer grösser, und für sie könnte dieses Buch Vorbildfunktion haben, wie man die Spuren von Zeit und Vergänglichkeit in ästhetische Bilder umsetzt, die mehr sind als bloss Dokumentation. Dann findet das Buch auch bei Leuten Liebhaber, die sich für Sozialgeschichte und Architektur interessieren. Andrea Knechtle bringt uns eine Welt näher, die uns ohne ihr Buch verborgen geblieben wäre.

Urs Tillmanns

 

Buchbeschreibung der Herausgeberin

Immer wieder ist Andrea Knechtle in ihrem Bus durch Europa unterwegs. Verlassene Orte sind ihre Leidenschaft. Getrieben von Neugier nach vergessenen Räumen und Staunen über die Spuren vergangener Leben hält Andrea Knechtle ihre Eindrücke mit der Kamera fest. Ihre subjektiv gestaltete Dokumentation des unaufhaltsamen Zerfalls alles Irdischen spiegelt das leise Grauen im Anbetracht des Endes von Etwas, wie auch die zauberhafte Verklärung des Verschwindens im Laufe der Zeit. Der Bildband Vestiges zeigt Orte aus Portugal, Deutschland, Frankreich, Italien und der Schweiz.

Die Kurzgeschichten von Markus Maeder zu Gegenständen stehen in freiem Bezug zur Bildwelt. Imaginäre Zeugen rufen fiktive Erinnerungen an ihre verlorenen Orte in ihrem fiktiven Leben wach.

«Das Betreten eines verlassenen Ortes ist jedes Mal ein Gefühlsmix zwischen Verweilen und Fotografieren und Rasch-wieder-Gehen.»

 

Der Inhalt

Intro Vestiges

Portugal
Villa – Norden / Palast – Zentrum / Weingut – Norden / Wohnhaus – Zentrum / Die Wandfliesen / Das Weinglas / Der Notizblock

Schweiz
Villa – Tessin / Grand Hotel – Tessin / Villa – Tessin / Der Schwingbesen / Die Knopfschachtel / Das Fieberthermometer / Die Getränkedosen

Deutschland
Heilstätte – Brandenburg / Grand Hotel – Baden-Württemberg / Das Häkeldeckchen / Die Teetassen / Die Klaviernoten / Die Taschenuhr

Frankreich
Herrenhaus – Okzitanien / Schloss – Okzitanien / Herrenhaus – Okzitanien / Schloss – Burgund-Franche-Comte / Schloss – Nouvelle-Aquitaine / Das Porträt / Der Federhalter / Das Fernglas / Die Schuhcreme

Intermezzo Vendesi

Italien
Schloss – Lombardei / Wohnhaus – Piemont / Villa – Lombardei / Villa – Marken / Villa – Lombardei / Villa – Toskana / Wohnhaus – Umbrien / Das Engelchen / Das Gebiss / Die Spielkarten / Die Löffelehen / Villa – Marken / Villa – Emilia-Romagna / Palast – Piemont / Villa – Marken / Das Vorhängeschloss / Das Räucherbündel / Das Senkblei / Villa – Piemont / Gutshof – Lombardei / Palast – Lombardei

Post Festum / Personen / Dank / Impressum

 

Die Fotografin, der Autor

Andrea Knechtle (*1972) konzipiert und gestaltet als typografische Gestalterin seit über zwanzig Jahren analoge und digitale Kommunikationsmittel. Gemeinsam mit ihrer Schwester Nadia führt sie das Atelier Quersicht für visuelle Gestaltung in Bäch am Zürichsee. Zwischen 2020 und 2023 hat sie an der Cap Fotoschule die Lehrgänge Professional und Premium abgeschlossen. Fotografie ist als Schnittstelle zur Grafik ein wichtiger Bestandteil ihrer Arbeit. Andrea Knechtle fotografiert gerne draussen, immer auf der Suche nach der perfekten Landschaftsszenerie. Sie mag es aber auch, in urbanen Umgebungen unterwegs zu sein oder im Studio Still Lifes zu inszenieren. Die Faszination für verlorene Orte begann im Jahr 2016. Die Bilder im Fotoband «Vestiges» entstanden in den vergangenen fünf Jahren auf Reisen mit dem Campingbus in Deutschland, Frankreich, Italien, Portugal und der Schweiz.

Markus Maeder (*1945) hat in Zürich deutsche Literatur und Geschichte studiert. Nach einigen Jahren als freier Journalist in Afrika, Indien und der Volksrepublik  China war er Redaktor beim Tages-Anzeiger und führte beim Schweizer Fernsehen in zahlreichen Dokumentarfilmen Regie. Seit 2001 schreibt er als freier Autor Bücher. 

 

Bibliografie

180 Seiten, 126 Fotos, Fadenheftung, Freirückenbindung, Format 20,5 x 27,2 cm
Texte von Markus Maeder
Eigenverlag, CH-8806 Bäch
Preis: CHF 85.00 (zzgl. Versandspesen)
Das Buch kann hier online bestellt werden   

 

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