Urs Tillmanns, 12. Februar 2024, 16:00 Uhr

Das Fotomuseum Winterthur zeigt in der Fotostiftung ihre Sammlung

Das Fotomuseum Winterthur wird umgebaut und geniesst derzeit Gastrecht in der benachbarten Fotostiftung. Es zeigt dort die Ausstellung «Der Sammlung zugeneigt – Konstellation 1», eine spannende Präsentation kontemporärer Fotografie, die zum Nachdenken anregt und Inspirationsquelle ist.

Das Fotomuseum Winterthur nimmt die 30-jährige Institutionsgeschichte zum Anlass, die eigene Sammlungspraxis zu beleuchten. Anhand exemplarischer Arbeiten aus der Sammlung werden unterschiedliche Thematiken und Fragestellungen vertieft – von den Sammlungsschwerpunkten über die Faktoren, die die Weiterentwicklung der Sammlung beeinflussen, bis hin zu den Lücken und Leerstellen, welche diese offenbart.

«Der Sammlung zugeneigt – Konstellation 1» bietet eine Alternative zur klassischen Sammlungsausstellung. Die nicht-lineare Präsentation beleuchtet zahlreiche Aspekte der Sammlungsarbeit, -entwicklung und -pflege. Sie bringt zudem eine institutionelle Haltung zum Ausdruck: Das Fotomuseum Winterthur ist durchaus (selbst-)kritisch – und dennoch der eigenen Sammlung zugeneigt. Die Ausstellung vereint Arbeiten von insgesamt 19 unterschiedlichen Fotograf/innen und Kunstschaffenden – darunter bekannte Namen wie Lee Friedlander, Nan Goldin, Cindy Sherman, Lorna Simpson und Garry Winogrand oder Shirana Shahbazi aber auch Neu- und Wiederentdeckungen wie Jacob Holdt, Anika Schwarzlose oder Lorna Simpson.

 

Ausgewählte Werke und Fragestellungen

Die Sammlung des Fotomuseum Winterthur spiegelt unter anderem seine Ausstellungsund Institutionsgeschichte. Nan Goldins Werk «The Sky on the Eve of Philippine’s Death» zeigt exemplarisch auf, dass das Ausstellungsprogramm die Sammlung massgeblich prägt – nebst inhaltlichen Schwerpunkten, gesellschaftlichen Themen oder der Entwicklung fotografischer Medien und Praktiken. Goldins Arbeiten gehören zur dokumentarisch-erzählerischen Fotografie – einem der fünf Schwerpunkte der Sammlung. Ein neuerer ist die Post-Fotografie, die digitale und vernetzte Bildtechnologien und Medien als künstlerische Ausdrucksformen nutzt. Schon früh interessierte sich das Fotomuseum Winterthur nicht nur aus kunstimmanenter, sondern insbesondere aus interdisziplinärer Sicht für die Fotografie und nahm auch deren «Ränder» in den Blick – unter anderem, indem es Werke in die Sammlung integrierte, die das gängige Verständnis von Kunst und Fotografie herausfordern. Deutlich wird dies beispielsweise an einem Werk aus der Serie «Bomb Cloud Atlas» der Forschungsgruppe Forensic Architecture. Die Arbeit, ein 3D-Modell, visualisiert Bombendetonationen, die sich im Syrienkrieg ereignet haben, und rekonstruiert das Ereignis wissenschaftlich über die Auswertung von Bildmaterial aus dem Internet.

 

Auch Sherrie Levine kommentiert mit ihren Werken den Kunstkanon: Indem sie die Werke männlicher Künstler wie Walker Evans oder Alexander Rodtschenko abfotografiert und dafür die Autorinnenschaft beansprucht, dekonstruiert und kritisiert Levine die cismännlich dominierte Kunst- und Fotografiegeschichte, die dem männlichen Künstlergenie Kreativität und Originalität zuspricht und Frauen lediglich die Rolle als Objekt und Muse zugesteht. Die mangelnde Sichtbarkeit von weiblich gelesenen Kunstschaffenden zeigt sich auch in der Sammlung des Fotomuseum Winterthur: 70% der Werke stammen von männlichen Kunstschaffenden.

 

Unterrepräsentiert sind in der Sammlung auch Perspektiven aus Osteuropa und dem globalen Süden. Eine der Ausnahmen in der Sammlung und der Ausstellung bildet die mexikanische Fotografin Graciela Iturbide mit ihrer Serie «Juchitán». US-amerikanische Fotograf/innen machen hingegen mehr als 20 Prozent der Sammlung aus. Diese Dominanz liegt unter anderem daran, dass die Fotografie in den USA bereits Mitte des 20. Jahrhunderts als Kunstform anerkannt und institutionalisiert wurde und die US-amerikanische Perspektive damit einen grossen Einfluss auf die Kanonisierung ausübte. Doch auch in dieser Perspektive gibt es eine grosse Lücke, auf welche die US-amerikanische Künstlerin Lorna Simpson aufmerksam macht: die fehlende Repräsentation afro-amerikanischer Personen – vor sowie hinter der Kamera. Für ihre Serie «Summer ’57/Summer ’09» stellt Simpson einzelne Fotografien aus dem privaten Bestand einer jungen Schwarzen Frau nach. Indem sie deren verführerische Posen aufgreift, zeigt sie nicht nur, wie Schönheitsideale auf diskriminierende Weise durch weisse Körper geprägt wurden und werden, sondern wirft auch ein Schlaglicht auf die Lücken und den weissen dominierenden Blick in der Sammlung des Fotomuseum Winterthur.

 

Das aktuelle Sammlungskonzept des Museums dient als Leitfaden für die Weiterentwicklung der Sammlung. Auch in Zukunft werden die fünf Schwerpunkte – dokumentarisch-erzählerische Fotografie; konzeptuelle und medienanalytische künstlerische Fotografie; post-fotografische Arbeiten; Arbeiten junger Fotograf/innen; ephemere Arbeiten und Druckobjekte – weiterverfolgt und die Entwicklung des Fotografischen immer wieder neu verhandelt. Zudem versucht die Institution dem Ungleichgewicht in Bezug auf Geschlecht oder Herkunft aktiv entgegenzuwirken und bisher unterrepräsentierte Perspektiven sichtbar zu machen.

 

 

Die Ausstellung des Fotomuseum Winterthur, in den Räumlichkeiten der Fotostiftung Schweiz an der Grüzenstrasse 45, ist noch bis 20. Mai 2024 zu sehen. Zur Ausstellung gibt es eine Begleitbroschüre, welche die wichtigsten Informationen enthält, die zudem in der Ausstellung über QR-Codes abgerufen werden können. Auch gibt es zwei Hand-outs mit den Sammlungsschwerpunkten in Kurzform und einem Familienrundgang für Kinder «und andere Dedektiv/innen».

Gleichzeitig präsentiert die Fotostiftung Schweiz bis 20. Mai 2024 die Ausstellung «Jakob Tuggener – Die 4 Jahreszeiten».

Die Folgeausstellung «Der Sammlung zugeneigt – Konstellation 2» ist für 28. Juni bis 28. September 2024 geplant.

(Redigierter Pressetext
Situationsbilder: Urs Tillmanns / Fotointern)

Kommende Veranstaltungen

Donnerstag, 22.02.2024, 21.03.2024 und 18.04.2024, jeweils 12:30–13:00
Geführte Werkbetrachtungen über Mittag

Samstag, 09.03.2024, 14:00–15:00
Artist Talk sowie Besuch der Fotobibliothek mit den Künstlern Stefan Burger und Matthias Gabi

Samstag, 30.03.2024, 14:00–15:00
Mind the Gap: Rundgang und Gespräch mit Ann Mbuti, Autorin, über Repräsentation und Leerstellen

Freitag und Samstag, 17. und 18.05.2024
Frame by Frame – Ein Symposium zum Sammeln von Fotografie
Konzipiert von den Stipendiat/innen im Programm Museumskurator/innen für Fotografie der Alfried Krupp von Bohlen und Halbach-Stiftung

 

Über die Sammlung des Fotomuseums Winterthur

Die Sammlung des Fotomuseum Winterthur besteht aus internationalen künstlerischen Positionen, die institutionsgeschichtlich eng mit dem Ausstellungsprogramm verknüpft sind, und umfasst rund 9’000 fotografische Objekte – Fotografien, Dokumente, installative Arbeiten und Bewegtbilder. Der Zeitraum der gesammelten Werke beginnt ab den 1960er-Jahren und reicht bis in die unmittelbare Gegenwart. Die Sammlung setzt sich aus Werken international bekannter Fotograf/innen sowie Arbeiten einer jungen Generation von Kunstschaffenden zusammen. Dabei werden fünf Schwerpunkte verfolgt: dokumentarisch-erzählerische Fotografie; konzeptuelle und medienanalytische künstlerische Fotografie; post-fotografische Arbeiten; Arbeiten junger Fotograf/innen sowie ephemere Arbeiten und Druckobjekte wie Broschüren, Pamphlete, Plakate oder Postkarten.

Fotomuseum Winterthur
Grüzenstrasse 44+45
CH-8400 Winterthur
www.fotomuseum.ch

 

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