Urs Tillmanns, 4. Juni 2011, 07:00 Uhr

Buchtipp: Hans Durrer «Inszenierte Wahrheiten»

Die Essays über Fotografie und Medien im neuesten Buch «Inszenierte Wahrheiten» des Medienkritikers Hans Durrer liefern nicht nur interessante Hintergrundinformationen zu vielen Ikonen der Fotografie, sondern sie klagen auch an, decken auf, stellen klar … Das Buch über Fotografie, das ohne Fotos auskommt, hat Henri Leuzinger für Fotointern.ch besprochen.

Nachdenken über Bilder und Geschichten

Hans Durrer kreist in seinen Essays über Fotografie und Medien um die Aussage und Bedeutung, welche Bilder in ihrem jeweiligen Kontext haben – genauer gesagt: erhalten, zugewiesen bekommen, verfremdet, umgedeutet werden. Kein Bild spricht nur für sich selbst. Seine Aussage ist kontextabhängig, verständlich bisweilen erst mit Hintergrundwissen. Es sind die Geschichten zum Bild, die Durrer untersucht, in Frage stellt und an verschiedenen prominenten Beispielen höchst informative Zusammenhänge zu Tage fördert. Unglaubliche Ereignisse, etwa über das Desaster, das ein berühmter Fotograf in seiner Rücksichtslosigkeit in Haiti hinterliess, um zu einem exklusiven Bild zu kommen. Dass er dabei die Jahre lange Arbeit von Terre des Hommes innert kürzester Zeit zerstörte, interessierte ihn nicht, Hauptsache, das Bild war in seinem Kasten.

Immer wieder kommt auch das Merkmal der Authentizität der Fotografie zur Sprache, welche das Medium, allen digitalen Einflussmöglichkeiten zum Trotz, nach wie vor aufweist, besonders dann, wenn Stil und Aufmachung der Bilder an die grosse Zeit der Reportagefotografie erinnern. Diese Fotografie dokumentiert, erscheint echt, bildet die Wirklichkeit so ab, wie sie ist. Oder genauer: Wie sie der Mensch hinter der Kamera im Sucher sieht. Wobei auch dies nicht einmal zutreffen muss: Viele der Panoramafotos, welche Michael von Graffenried etwa in Algerien gemacht hat, sind «blind shots», also unauffällig aus Hüfthöhe entstanden, ohne dass die Leute die Aufnahme bemerkt hätten.

Ist echt, was im Moment des Auslösens ist? Ist auch echt, was durchaus so hätte sein können? Selbst wenn man etwas nachhilft, sachte ermunternd Regie führt oder gar inszeniert? Viele packende Bilder sind keineswegs konkret aus dem Leben gegriffen, sondern arrangiert, etwa im Falle jenes Piloten, welcher am Strand von Rio eben vom Grounding seiner Swissair erfahren habe, wie die Legende dazu erläutert. Gewiss, ein starkes Bild, das sogar in der Kategorie «Aktualität» bei der Swiss Press Photo 2002 einen Preis erhielt. Zu Unrecht, wie Durrer nachweist, denn die Aufnahme war inszeniert. Die Legende stimmt so nicht und wird dadurch selbst zur «Legende», obwohl journalistisch die Botschaft an und für sich überzeugte.

A propos Legende: Viele Bildbände präsentieren die Fotos ohne Legende, manchmal fehlt sogar die Paginierung auf den Seiten. Im Falle von visuellen Gestaltungen, sogenannten «Impressionen», mag dies ja noch angehen, bei journalistischer Reportagefotografie indessen rügt Durrer dies als unmögliche Praxis. Er entlarvt das Argument, die Leserschaft möge sich ihr eigenes Bild vom Gezeigten machen, als Vorwand. Bilder dieser Art brauchen die zeitliche und räumliche Verortung, um sie im entsprechenden Kontext lesen und verstehen zu können – vorausgesetzt, das Publikum bringt auch entsprechendes Allgemeinwissen mit.

Hans Durrer ist ein ausgezeichneter Beobachter und Medienkritiker, der seine Befunde und Wertungen, seine persönlichen Eindrücke und Gefühle reflektierend transparent macht, etwa seine anfängliche Skepsis gegenüber Sebastião Salgado. Ähnliches habe ich selbst erlebt und zwar, als ich kürzlich einen Dokumentarfilm über Henri Cartier-Bresson gesehen habe. Seine Bilder beeindruckten mich stets, wie er sie machte eher weniger. «H C-B» selbst gab am Filmende beiläufig preis, dass er beim Portraitieren seine Leute immer wieder übertölpelte, indem er sagte, jetzt sei Schluss, um gleich danach noch ein paar Mal abzudrücken, im Film mit fiesem Grinsen und entsprechend zupackend-triumphierender Geste illustriert, wie eine Schlange, die blitzschnell zubeisst. Kein angenehmes Gefühl.

Das in der schlanken Rotis elegant gesetzte, handliche Buch mit 122 Seiten verzichtet auf die Reproduktion der Bilder, die besprochen werden. Hiefür mag es gute Gründe geben; viele prominente Autoren mussten ähnlich vorgehen, aus urheberrechtlichen und finanziellen Gründen. Dieses Fehlen der Bilder setzt indessen bei der Leserschaft profunde Kenntnisse voraus, um Durrers Argumentationen wirklich umfassend nachvollziehen zu können. Das klappt bei Allgemeingut gewordenen Bildern ganz gut, wie dem legendären Milizionär, von Robert Capa im Moment aufgenommen, als ihn eine Kugel traf, oder beim jungen Mann vor den Panzern auf dem Tianamen-Platz in Peking oder dem direkt auf den Fotografen zu rennenden kleinen nackten Mädchen im Vietnamkrieg. Schon schwieriger wird es für mich bei manchen anderen Aufnahmen, die ich den Überlegungen folgend nicht mehr so präzis abrufen kann, wie ich gerne hätte. Dennoch, die präzise formulierten, stets auch den Autoren reflektierenden Essays gehören zum Besten, was es über Fotografie und Medien aktuell zu Lesen gibt.

Übrigens, aussergewöhnlich an den Essays ist die Breite, Intensität und das persönliche Engagement des Autors, das stets präsent ist, namentlich dann, wenn Durrer auch seine Befindlichkeit als Publizist einfliessen lässt, der sich mit den Mechanismen, wie Bilder wirken, auseinander setzt. Wer so kenntnisreich argumentiert, schöpft aus einem Fundus, der weit über das fotografische und journalistische Metier hinaus geht. Hans Durrer, gelernter Jurist mit verschiedenen Nachdiplomabschlüssen, war unter anderem auch als IKRK-Delegierter im Einsatz, lebte und arbeitete auf allen Kontinenten. Als Publizist und «homme de lettres» vermittelt er heute zwischen Sprachen und Kulturen. Vom Metier des Journalismus scheint sich seine Hochachtung eher in Grenzen zu halten, etwa wenn er befindet: «Journalismus beruht auf Hörensagen» – um dies wenige Zeilen später zu relativieren. Doch in der Welt des Fernsehens und des Häppchen-Journalismus der Pendlerzeitungen, in der sich die Recherche primär auf das schnelle Nachschlagen im Internet beschränkt und höchst selten auf eigenes Erleben vor Ort zurückgreifen kann, entwickeln sich Mechanismen im Umgang mit Texten, Fotos und Filmen, die am Ende kaum mehr etwas mit der Wirklichkeit zu tun haben. Wie und warum dies passiert, das be- und hinterleuchtet Hans Durrer in 23 prägnanten Essays – erhellend und empfehlenswert.

Henri Leuzinger

Das Buch ist im Buchhandel erhältlich. Es ist im Rüegger Verlag, Glarus/Chur erschienen und kostet CHF 24.00. Es kann hier bestellt werden.

 

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