Urs Tillmanns, 8. Dezember 2019, 10:37 Uhr

Im Fotomuseum: «Because the Night»

Die thematische Ausstellung «Because the Night» widmet sich den verschiedenen Facetten des Nachtlebens. Die visuellen Sprachen verschiedener Musikszenen und die Ausdrucksweisen einzelner Subkulturen spielen dabei eine zentrale Rolle, ebenso wie die dunkle Tonalität und die spezifische Beleuchtung, die die geheimnisumwobene Atmosphäre der Nacht widerspiegeln. Anhand von fünf fotografischen Werkkomplexe wird das Geschehen jener besonderen Stunden in unterschiedlichen (sozio-)kulturellen und topografischen Settings gezeigt.

Die Ausstellung präsentiert Arbeiten von Georg Gatsas, Bárbara Wagner und Benjamin de Burca sowie Tobias Zielony, die die mit dem Nachtleben verbundenen komplexen Beziehungsgeflechte sowie deren soziale Wertsysteme und politische Verortung betrachten. Diese treten in einen Dialog mit den radikal persönlichen Perspektiven von Bieke Depoorter und Thembinkosi Hlatshwayo, die einen intimen Einblick in die nächtlichen Aushandlungsprozesse des Selbst mit seiner Umwelt geben. Die präsentierten, internationalen Positionen sind Spiegel einer jüngeren Künstler/innengeneration, die sich inmitten gegenwärtiger Umbrüche und komplexer, durch politische Prozesse aufgeladener Zustände bewegt und diese vorbehaltslos dokumentiert.

 

Tobias Zielony «Maskirovka»

Bei einem Aufenthalt in der Ukraine zwischen Oktober 2016 und Juli 2017 traf der deutsche Fotograf Tobias Zielony auf die Underground Queer- und Techno-Szene in Kiew. Diese hatte sich im Nachhall der Euromaidan-Revolution 2013/2014 herausgebildet. Der Titel von Zielonys Arbeit – Maskirovka – beschreibt eine Tradition der russischen Kriegstaktik: Die Täuschung. Er hebt auf die sogenannten «grünen Männer» ab, russische Spezialeinheiten, die die Krim besetzten und die pro-russischen Streitkräfte in der Ostukraine unterstützten und ihr Gesicht hinter grünen Sturmhauben verbargen. Masken waren zudem ein wichtiger Schutz für die Maidan-Protestierenden sowohl vor dem eingesetzten Tränengas als auch zum Verbergen ihrer Identität vor den Behörden. Nicht zuletzt erlaubt die Maske den Menschen, sich abzuschirmen. Zielonys insgesamt 42 angefertigte Fotografien sowie ein Animationsfilm, zusammengestellt aus 5’400 Einzelbildern, bilden eine visuelle Kakophonie des Euromaidan, die er auf der Strasse und im Club eingefangen und mit Material aus Nachrichtenberichten über Kiew verwoben hat. Die vielschichtige Realität eines Landes im Umbruch wird über eine Gemeinschaft erzählt, die den symbolischen und politischen Raum ihrer Umgebung neu zu besetzen versucht und im Schutz der Nacht ihren Freiraum findet.

 

Thembinkosi Hlatshwayo «Slaghuis»

In seiner Serie «Slaghuis» (Schlachthaus oder Massaker) konfrontiert uns der südafrikanische Fotograf Thembinkosi Hlatshwayo mit der Problematik des Aufwachsens in einem sogenannten Shebeen, einer illegalen Taverne in einem Township in Johannesburg. Seine fotografischen Collagen und mehrheitlich minimalistischen Kompositionen bilden Erzählsplitter, die in ihrer dichten Anordnung einen Eindruck vermitteln, wie schwierig es sein muss, wenn das eigene Zuhause nicht mehr als sicherer Zufluchtsort funktioniert, sondern zum Austragungsort nächtlicher Unbeherrschtheit und Brutalität wird. Hoher Alkoholkonsum gepaart mit überaus anspruchsvollen sozialen Bedingungen und die nicht zuletzt dadurch verursachte hohe Gewaltbereitschaft bilden ein toxisches Gefüge, welches die Nächte des Künstlers über Jahre hinweg prägten. Parallel zu den fast menschleeren Bildern, die Spuren der Ausschreitungen wie zerbrochene Flaschen zeigen, lässt uns Hlatshwayo an seinen inneren Konflikten, dem Gefühl des Ausgeliefertseins und der damit verbundenen Sprachlosigkeit über kurze niedergeschriebene Gedankenströme teilhaben. So wird das Un-Erzählbare der Nacht im Dialog von Bild und Text erlebbar.

 

Georg Gatsa «Signal The Future»

Bei der Betrachtung von Georg Gatsas‘ Werkzyklus «Signal The Future» begleiten wir verschiedene Protagonist/innen der Londoner Clubszene ab 2008, kurze Zeit nachdem das britische Musikphänomen Dubstep international auf Anerkennung stiess. Schnappschüssen gleichende Porträtaufnahmen der Clubgänger/innen vor Backsteinmauern und Gruppenaufnahmen von sich dem basslastigen Sound völlig hingebenden Tänzer/innen treffen auf architektonische Perspektiven der Metropole bei Nacht. Neben dem Einfangen einer dynamischen, ethnisch vielfältigen Gemeinschaft, die über die Musik eng verbunden ist, erzählen die Bilder auch die Geschichte einer Stadt im Wandel. Die Strassen des Südlondoner Stadtteils Brixton sind heute längst nicht mehr dieselben wie Ende der 2000-Jahre. Mittlerweile ist das Viertel weitgehend gentrifiziert; das Rohe, Unverbrauchte ist grossen lukrativen Immobilienprojekten gewichen, Szenen haben sich von Subkultur zum Mainstream weiterentwickelt oder ganz aufgelöst.

 

Bárbara Wagner und Benjamin de Burca «Estás Vendo Coisas’»

In ihrer Videoarbeit «Estás Vendo Coisas’» (You Are Seeing Things) befasst sich das Künstler/innenduo Bárbara Wagner und Benjamin de Burca mit der brasilianischen Popmusikbewegung Brega. Als Brega wird üblicherweise Musik bezeichnet, die sich durch oftmals dramatische Übertreibungen sowie gefühlvolle Texte auszeichnet und daher mit eher schlechtem Geschmack assoziiert wird. Nichtsdestotrotz muss die Bewegung rund um Brega als komplexes sozio-ökonomisches Phänomen verstanden werden, das sich durch aufwändige Produktions- und Vertriebsmethoden auszeichnet. Das Format des Musikvideos spielt hierbei eine entscheidende Rolle: Eine neue Generation von Popkünstler/innen, die in den Randgebieten des Nordostens Brasiliens tätig sind, erhalten eine Stimme, wirken als Vorbilder und entwickeln hohes Identifikationspotenzial. Der Film wurde mit aktuellen Mitgliedern aus der Szene gedreht und folgt zwei Hauptfiguren – einem Friseur und abends als MC Porck bekannten Musiker und der Feuerwehrfrau und Sängerin Dayana Paixão – auf dem Weg vom Studio zur Bühne. In der Dunkelheit des Nachtclubs treffen Melodien über Liebe und Erfolg auf expressive Gestik und grelle Farben – ein Musical der anderen Art.

 

Bieke Depoorter «Agata»

Bieke Depoorter lernte Agata 2017 während eines zweiwöchigen Aufenthaltes in einer Stripteasebar in Paris kennen und machte sie daraufhin zur Protagonistin ihrer gleichnamigen, bis heute laufenden Fotoserie. In der Annäherung zwischen der Fotografin und ihrem Subjekt entfaltet sich eine Geschichte, die mal dokumentarisch, mal fiktional anmutet. Die Nacht wird dabei zum prägenden Moment, das immer wieder Begrenzungen und zwischenmenschliche Aushandlungsprozesse sichtbar macht. Überall dort, wo Nähe spürbar wird, ist die Distanz nicht weit. Die Stärke des Dialogs zwischen Depoorter und ihrer Muse Agata spielt sich im Verborgenen ab: Wer blickt wen an, wer fühlt sich von wem mehr angezogen, was ist spielerische Auseinandersetzung miteinander und was bedeutet der Ernst des kamerabegleiteten Blicks? In Kombination mit persönlichen Notizen werden die Bilder zu einer intimen Reise in die gemeinsam durchlebten Nächte und damit verbundene Gefühlswelten. Bieke und Agata sind sich einig: über das fotografische Porträt lernt sich Agata besser kennen – nach der über zweijährigen Zusammenarbeit hat sich allerdings auch die Rolle der Fotografin mit verändert.

Die Ausstellung «Because the Night» ist noch bis 16. Februar 2020 zu sehen im
Fotomuseum Winterthur
Grüzenstrasse 44+45
CH-8400 Winterthur
Tel. 052 234 10 60

 

Kurzbiografien

Tobias Zielony (*1973, lebt und arbeitet in Berlin) studierte von 1998 bis 2001 Dokumentarfotografie an der University of Wales in Grossbritannien. Nach seiner Erstausstellung 2004 im Institut Français in Leipzig wurden seine Werke unter anderem 2006 im Centre de la Photographie Genf, 2010 in der Kunsthalle Wien und 2015 im Deutschen Pavillon der Biennale Venedig ausgestellt. Parallel dazu realisierte er diverse Buchprojekte, wofür er 2004 den Marion-Ermer-Preis gewann.

Georg Gatsas (*1978, lebt und arbeitet in Basel und Waldstatt) interessiert sich dafür, wie Musik und deren Akteur/innen sich in unterschiedlichen urbanen Settings darstellen lassen. In den letzten Jahren wurde das Schaffen von Georg Gatsas in zahlreichen Ausstellungen im In- und Ausland gezeigt, u.a. als Einzelausstellungen 2018 im Kunstmuseum St. Gallen oder 2003 im Swiss Institute in New York.

Thembinkosi Hlatshwayo (*1993, lebt und arbeitet in Johannisburg) trat 2016 der südafrikanischen Fotoinitiative Of Soul and Joy im Township Thokoza, Johannesburg bei, die jungen Fotograf/innen eine Plattform bietet. Hlatshwayo ist Absolvent des Advanced Programme in Photography (2018). 2019 wurde er mit dem CAP-Preis für zeitgenössische afrikanische Kunst ausgezeichnet und ist Preisträger eines Gisèle Wulfsohn Mentorats.

Bárbara Wagner (*1980,) lebt in Recife und arbeitet seit 2013 mit Benjamin de Burca als Künstler/innenduo zusammen. Bárbara Wagner wurde in Brasilien geboren. Ihre fotografischen Arbeiten bewegen sich im Spannungsfeld von Popkultur und Tradition. Ihre Arbeiten wurden in Einzel- und Gruppenausstellungen ausgestellt und sind Teil der MASP und MAM Sammlungen in São Paulo.

Benjamin De Burca (*1975wuchs in Irland auf und studierte Malerei an der Glasgow School of Art. Er absolvierte den Master of Fine Arts an der University of Ulster in Belfast. Gemeinsam nahmen Bárbara Wagner und Benjamin De Burca an zahlreichen Festivals und Ausstellungen teil: 2019 an der Biennale Venedig, 2016 an der 32. São Paulo Biennale und 2017 an der 5. Skulptur Projekte Münster.

Bieke Depooter (*1986, lebt und arbeitet in Brüssel) wurde 2016 damals jüngstes Mitglied der Fotoagentur Magnum. 2009 schloss Depoorter den Masterstudiengang Fotografie an der Royal Academy of Fine Arts in Ghent ab. Seither wurde die Belgierin sowohl in Einzel- als auch Gruppenausstellungen von renommierten, internationalen Kunstinstitutionen ausgestellt und nahm an verschiedenen Festivals teil.

 

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