Urs Tillmanns, 12. August 2023, 10:00 Uhr

Buchtipp: Stephen Wilkens «Day to Night»

Das Buch zeigt Bilder, die in aufwändigen Kompositionen Tag- und Nachteffekte gleichzeitig darstellen. Dabei kommen viele Details zum Ausdruck, die nur mit Hunderten von Einzelbildern möglich sind, die zu einem einzigen Foto vereint werden. Das ist der fotografische Stil von Stephen Wilke, der in diesem Buch dokumentiert ist.

Ja, natürlich Photoshop! wird wohl die häufigste Reaktion jener sein, welche die Bilder in diesem Buch zum ersten Mal betrachten. Ein Bild am Tag und eines nachts und dann zusammenmechen … Aber so einfach macht sich Stephen Wilkens seine Aufgabe nicht. Er fotografiert ein Objekt während mehreren Stunden, von frühmorgens bis spätabends, und setzt die mehreren Hundert oder mehr als Tausend Einzelbilder zu einer riesigen Komposition zusammen. Dabei werden Personen und Details eingefügt, die Schatten der Lichtrichtung angepasst und alle Übergänge, von Hell zu Dunkel, akribisch bearbeitet, bis das letzte Detail stimmt. Wilkens arbeitet mehrere Monate an einem Bild, nimmt sich immer wieder das eine oder andere Detail vor, um es noch perfekter zu machen. Weiss man, welcher Aufwand hinter diesen Werken steckt, so beginnt man genauer hinzuschauen, sucht nach Details, die eingesetzt oder bearbeitet sind. Es ist alles so perfekt, dass man der Arbeit von Stephens Wilkens mit grossem Respekt begegnet. Kommt noch hinzu, dass Wilkens mit seinen ersten Arbeiten 2009 begann, zu einer Zeit also, als die digitale Bildbearbeitung bei weitem nicht die Möglichkeiten bot, an die wir heute denken – von KI ganz zu schweigen.

«Day to Night» – der Titel sagt es – verblüfft vor allem durch die wechselnden Licht- und Beleuchtungsverhältnisse, welche partiell den Übergang vom Tag zur Nacht zeigen. Das hat man in dieser Art noch kaum gesehen, vor allem nicht in dieser Perfektion und Konsequenz. Ein ausserordentlicher Effekt, der dem Titel von Lyle Rexer’s Einleitungstext – den es im Buch auf Englisch Deutsch und Französisch in voller Länge gibt – Recht: «Die ausgedehnte Zeit»! Wilkens zeigt uns nicht nur die verschiedenen Lichtstimmungen in einem Bild, sondern er dehnt damit die Zeit im Bild aus. Ein besonders deutliches Beispiel dafür ist das Bild «Bears Ears Natoinal Monument» (in der untenstehenden Inhaltsübersicht), welches rechts eine Sonnenstimmung und links den Sonnenuntergang zeigt.

Rexer gibt in seinem Text viele interessante Details zu Wilkes Arbeitsweise und seinen Bildern preis, zum Beispiel auch, welches Schlüsselerlebnis ihn dazu bewogen hat, verschiedene Szenen in seinen Kompositionen darzustellen. 14-jährig war Wilkes bei einem Besuch im Metropolitan Museum of Art von Pieter Bruegels Gemälde «Die Kornernte» beeindruckt, welches eine Vielzahl von Handlungsschauplätzen zeigt. Einige der Arbeitenden schneiden und bündelten das Korn, während andere  ihr Mittagessen verspeisen oder unter einem Baum ruhen. «Alles in dem Bild hat etwas zu sagen» so Stephen Wilke dazu. «Es gelang dem Maler Initimität und Weite des Bildraums zu steuern, ohne dabei die Regeln des vordergründigen Realismus sichtbar zu brechen. Es scheint fast, als wären die Erntearbeiter, die durchs Feld stampfen, dieselben, wie jene, die unter dem Baum in einem anderen Teil des Bildes Rast machen».

Ähnlich wie Pieter Bruegel in seinem Gemälde, stellt auch Wilkens in seinen aufwändigen Kompositionen im ein und demselben Bild mehrere isolierte Gruppen von Akteuren dar, die spannend zu einer Gesamtwirkung beitragen. Als treffendstes Beispiel dient das Bild der Ostermesse von Papst Franziskus, in welchem der Pontifex insgesamt zehnmal auf dem Petersplatz zu sehen sein soll. In der Seitenabfolge des Buches macht Wilkes immer wieder auf diese Details aufmerksam, indem er nach dem Gesamtbild auf den Folgeseite Einzelheiten doppeleseitig zeigt.

Für wen ist dieses Buch? Es ist ein Bildband besonderer Art, in dem Zeit- und Lichteffekte dominieren und Betrachterinnen und Betrachter faszinieren – falls sie sich soweit in die Bilder vertiefen. Wilkes zeigt uns Kompositionen, in denen er die Zeit darstellt und uns mit bisher ungesehen Bildern verblüfft. Dabei steht vor allem sein kreatives und handwerkliches Können im Vordergrund, das höchste Anerkennung verdient.

Urs Tillmanns

 

Buchbeschreibung des Verlages

Würden Sie dreissig Stunden lang von einer bestimmten Stelle auf einen berühmten Ort blicken, ohne die Augen zu schliessen, dann wären Sie noch immer nicht in der Lage, all die Details und Ereignisse zu erfassen, die man in einem Panoramafoto von Stephen Wilkes findet. Von einem festen, meist erhöhten Blickwinkel aus nimmt er im Laufe eines Tages über 1’500 Fotos auf und verarbeitet diese Fülle bildlicher Informationen, indem er akribisch ausgewählte Einzelbilder zu einem einzigen Tableau zusammenfügt.

Day to Night präsentiert 60 dieser epischen Panoramen, die zwischen 2009 und 2022 entstanden sind – von der Serengeti in Tansania bis zur Blauen Lagune in Island, vom Grand Canyon bis Coney Island, vom Trafalgar Square bis zum Times Square: Orte und Wahrzeichen, die fester Bestandteil unseres kollektiven Gedächtnisses sind. Wilkes wartete mehr als zwei Jahre auf die Genehmigung, Papst Franziskus bei der Feier der Ostermesse im Vatikan fotografieren zu dürfen. Das Ergebnis ist ein Tafelbild, auf dem der Pontifex insgesamt zehnmal zu sehen ist. Zudem zeigt der Band einige der unzähligen Details, die wesentlicher Bestandteil der endgültigen Komposition und eigene kleine Kunstwerke sind.

Jedes einzelne Bild nimmt uns mit auf einen faszinierenden Trip von der Morgen- bis zur Abenddämmerung an den symbolträchtigsten Orten der Welt. Das tägliche Pulsieren natürlicher und künstlicher Sehenswürdigkeiten erlebt man auf diese Weise völlig neu.

 

Der Inhalt

Einleitung: «To Me, Every Hour of the Day and Night is an Unspeakably Perfect Miracle»

Stephen Wilkes: «Time Blends» by Lyle Rexer
Stephen Wilkes: «Die ausgedehnte Zeit» von Lyle Rexer
Stephen Wilkes: «Le temps étiré» de Lyle Rexer

(Liste der Abbildungen, alphabetisch nach Aufnahmeort, entspricht nicht der Seitenabfolge)

Amsterdam, Holland / Arc de Triomphe, Paris / Ban Gioc-Detian, China & Vietnam / Bass Rock, Scottland / Bears Ears National Monument, Utah / Bella Coola Valley, Kanada

Bergen Holland / Blue Lagoon, Island / Brooklyn Bridge, New York City / Central Park, New York City / Cilko Lake, Kanada / Churchill, Kanada

Columbus Circle, New York City / Coney Island, New York City / Eifel Turm, Paris / Fagradasfjall Vulkan, Island / Fairfield, Connecticut / Flatiron Building, New York City /

Ganges Fluss, Varanassi, Indien / Gramercy Park, New York City / Grand Canyon, Arizona / Haridwar, Indien / Ilulissat, Grönland / Lake Bogoria, Nairobi, Kenya

London Eye, London / Miami, Florida / Millenium Park, Chicago / Notre Dame, Paris / Ottawa, Kanada / Park Avenue, New York City

Red Square, Moskau / Rio de Janeiro, Brasilien / Robson Bight, Kanada / Rockefeller Center, New York City / Rowe Sanctuary, Nebraska / Sacré-Coeur, Paris

San Francisco Bay, Kalifornien / Santa Monica, Kalifornien / Schönbrunn Palast, Wien / Serengeti National Park, Tansania / Shanghai, China / Shi Shi Beach, Washington

Siena, Italien / Steeple Jason, Falkland Inseln / Stonehenge, England / South London / Tel Aviv, Israel / The High Line, New York City

Times Square, New York City / Trafalgar Square, London / Union Square, New York City / Vatican City, Italien / Venedig, Italien

Washington, D.C. / Washington Square Park, New York City / Wester Hall, Jerusalem / Wringley Field Chicago / Yosemite National Park, Kalifornien

Verdankungen

Impressum

 

Der Fotograf

Stephen Wilkes wurde 1957 in New York geboren. Er erwarb 1980 einen Bachelor-Abschluss in Fotografie an der S.I. Newhouse School of Public Communications der Syracuse University und einen Nebenfachabschluss in Betriebswirtschaft an der Whitman School of Management. Seine Arbeiten erschienen in National Geographic, Vanity Fair, Time, Fortune, Sports Illustrated, in Kampagnen für Netflix, American Express, IBM und Rolex und sind in den Sammlungen des Houston Museum of Fine Arts, des Museum of the City of New York, der Dow Jones Collection und anderen vertreten. Wilkes ist Regisseur, National Geographic Explorer und TED-Sprecher. Zu seinen zahlreichen Auszeichnungen und Ehrungen gehören der Alfred Eisenstaedt Award for Magazine Photography und die Top 10 Photographs of 2012 des Time Magazine. 

 

Der Autor

Lyle Rexer ist ein in New York ansässiger Autor, Kurator und Kunstkritiker. Er ist Mitarbeiter der Zeitschrift Photograph und hat für viele andere Zeitschriften geschrieben, darunter Art in America, Aperture und Modern Painters. Als Rhodes-Stipendiat ist er Mitglied des Lehrkörpers der School of Visual Arts in New York City.

 

Bibliografie

Stephen Wilkes. «Day to Night»

296 Seiten, 134 meist doppelseitige Fotos, 10 davon auf Ausklappseiten, fester Umschlag, Fadenheftung, mit Schutzumschlag, Format 25 x 34 cm, Gewicht 2,96 kg,
Text von Lyle Rexer in Deutsch, Englisch und Französisch
Preis: CHF / EUR 60.00
Taschen-Verlag, Köln
ISBN 978-3-8365-9257-4

Das Buch kann im Buchhandel gekauft oder direkt beim Verlag bestellt werden.

Weitere Informationen finden Sie unter www.taschen.com/de

Hinweis: Es gibt von «Day to Night» auch zwei Luxusausgaben von je 100 Exemplaren im XXL-Format
Stephen Wilkes. Day to Night. Art Edition No. 1–100 ‘Brooklyn Bridge, New York City, 2016’
Stephen Wilkes. Day to Night. Art Edition No. 101–200 ‘Grand Canyon, Arizona, 2015’

 

2 Kommentare zu “Buchtipp: Stephen Wilkens «Day to Night»”

  1. Ïmmer wieder: Sorgfältigste Buchbesprechungen hier auf fotointern.ch, bebildert mit grosser Anschaulichkeit, beschrieben mit dem Blick des Fotografen. Schon mehr als einmal habe ich das Buch jeweils direkt bestellt. Besten Dank!

    1. Besser kann ich es auch nicht ausdrücken. Danke für die detaillierten Hinweise, die den Autor viel Zeit kosten!
      Das Gesamtwerk ist sehr günstig; die beiden Riesenformate mit je 4500.- immerhin preiswert 😉

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