Urs Tillmanns, 12. Juni 2021, 10:10 Uhr

Buchtipp: Ernst A. Heiniger «Good Morning, World!»

Dass Ernst A. Heiniger als bedeutender Vertreter der Neuen Fotografie in der Schweiz eher in Vergessenheit geraten ist, hat mehrere Gründe. Erstens war Heiniger nicht «nur» Fotograf, sondern er arbeitete als gelernter Positivretuscheur sehr vielseitig in gestalterischen Berufen. Die Fotografie hat er autodidaktisch erlernt und in erster Linie dazu benutzt auf seinen Reisen – nach Ungarn zu den Pferden der Puzsta, dann nach Russland und Afrika – seine Eindrücke im Hinblick auf spätere Publikationen festzuhalten. Zweitens war Heiniger beruflich stark auf grafische Gestaltung ausgerichtet, realisierte verschiedene Plakate (z.B. Weltausstellung der Photographie 1952, Bally, ACS) und Broschüren (vor allem für die Telefonförderung der PTT), befasste sich vermehrt mit Filmprojekten, verwirklichte 360°-Filme, malte zwischendurch und war von der «Light Art» fasziniert, einer Kombination von Fotografie und elektronischer Musik. Und drittens waren es vor allem diese Rund-um-Filme, welche Heiniger berühmt gemacht hatten. 

Nicht nur auf Grund dieser Vielfältigkeit finden wir Heiniger kaum in der Liste der grossen Schweizer Fotografen, wie beispielsweise seine Zeitgenossen Werner Bischof, Gotthard Schuh, Emil Schulthess, Hans Finsler und andere mehr, sondern auch weil sich Heiniger stark nach Amerika ausrichtete, seit 1986 – nachdem er sich mit einigen Schweizer Auftraggebern zerstritten hatte – in Los Angeles lebte und sein gesamtes Lebenswerk mit nach Amerika nahm. Erst durch das zufällige Auffinden einer Korrespondenz mit der Stiftung für Fotografie gelangte das Material wieder in die Schweiz zur heutigen Fotostiftung der Schweiz in Winterthur. Die lange Geschichte dazu ist ebenfalls in diesem Buch zu lesen.

Das Buch zu Heinigers Schaffen «Good Morning, World!» scheint auf seiner eigenen Idee zu beruhen. Das belegt das Originalkonzept einer Monografie von Heiniger, welches am Anfang des Buches zu finden ist, die offensichtlich nie realisiert worden war. Nun hat Katharina Rippstein bei der Digitalisierung des Heiniger-Bestandes dessen vollumfängliches Werk «wiederentdeckt», woraus letztlich nicht nur dieses Buch entstand, sondern dazugehörend die gleichnamige Ausstellung in der Fotostiftung, die noch bis 10. Oktober 2021 zu sehen ist.

Ernst A. Heiniger hat diese Monografie mehr als verdient. Sie zeigt nicht nur sein fotografisches Schaffen, sondern das Buch gibt einen umfassenden Einblick in das Gesamtlebenswerk von Heiniger, in seine Gestaltungsarbeiten als Grafiker, in seine Zusammenarbeit mit den Walt Disney Productions und in seine avantgardistischen 360°-Filmprojekte Circarama und Swissorama. Es ist nicht nur reich bebildert und zeigt so sein fotografisches Schaffen in einem repräsentativen Querschnitt, sondern es ist ergänzt durch viele Reproduktionen von Originaldokumenten, Briefen, Konzepten, Arbeitspapieren, welche dem Buch eine zusätzliche Spannung verleihen. Weiter enthält das Werk neben einem Vorwort von Peter Pfrunder drei interessante Textteile zum Lebenslauf von Heiniger (Patricia Banzer), zu seinem Lebenswerk (Katharina Rippstein) und zu seiner Rolle auf der Weltausstellung der Fotografie 1952 von Muriel Willi.

Für wen ist dieses Buch? In erster Linie wurde es als Begleitpublikation zur gleichnamigen Ausstellung konzipiert. Es ist fotohistorisch interessant als Monografie von Ernst A. Heiniger, bietet einen umfassenden Überblick seinen beruflichen Tätigkeiten und gibt einen hervorragenden Einblick in die Foto- und Filmszene der Schweiz und Amerikas von 1930 bis 1980. Dabei werden verschiede Highlights neu betont, wie beispielsweise die Weltausstellung der Photographie 1952 in Luzern oder das Filmpanorama von Heiniger auf der Expo 1964. Letzters war es auch, das Heiniger bei einem grossen Publikum berühmt gemacht hatte.

Urs Tillmanns

 

Buchbeschreibung des Verlages

Ernst A.·Heiniger (1909-1993)·gehörte in den 1930er-Jahren·zur Avantgarde der Neuen Fotografie in der Schweiz. ln den J950er-Jahren·schuf er 0scar-prämierte Dokumentarfilme für Walt Disney, danach machte er sich als Pionier des 360-Grad-Films international einen Namen. Sein Archiv befindet sich-seit 2014 in der Fotostiftung Schweiz und wurde·von Katharina Rippstein aufgearbeitet. Es bildet die Grundlage für die erste umfassende Präsentation von Leben und Werk des ungewöhnlichen visuellen Gestalters. Ernst A. Heiniger – Good Morning, World! zeigt Sach- und Naturaufnahmen, Fotobücher, Dokumente, Filmstills sowie Making-of-Bilder: ein vielfältiges Schaffen, das sich zwischen kühler Perfektion und sinnlicher Schönheit bewegt.

 

Der Inhalt

Unsichtbares sichtbar machen
von Peter Pfrunder

Beharrlich, cholerisch, brillant und weltgewandt
Ernst A. Heinigers Weg von Engwang in die Hollywood-Hills, von Patricia Banzer

1929-1939 Frühe Arbeiten
Neue Fotografie und Schweizerischer Werkbund

1934-1953 Auftragsarbeiten
Fotografie + Grafik = Fotografik

1936/37 Das Fotobuch
Puszta-Pferde

1941/42 Schweizer Landschaften
Die Fotobücher Tessin und Viertausender

Zwischen Avantgarde und Disneyworld
Ernst A. Heinigers «Swissness»,
von Katharina Rippstein

1952 Weltausstellung der Photographie in Luzern
Masterpieces of Photography

Inspirationsquellen und Plattformen für das Werk von Ernst A. Heiniger
Eine Ausstellungsgeschichte von Muriel Willi

1953-1958 Walt Disney Productions
Switzerland, Ama Girls, Japan und Grand Canyon

1962-1988 360-Grad-Kino
Circarama und Swissorama

Anhang

 

Biografie von Ernst A. Heiniger

Ernst A. Heiniger (1909–1993) wurde in Engwang (Kanton Thurgau) geboren, wuchs in Albis und Urdorf auf und durchlief von 1925 bis 1928 eine Lehre als Positiv-Retuscheur bei Anderson & Schneeberger. Er machte sich 1929 als Positivretuscheur selbständig und erlernte die Fotografie autodidaktisch. Er war zudem als Grafiker tätig und führte von 1934 bis 1939 ein gemeinsames Atelier mit Heiri Steiner in Zürich. Auf einer Studienreise nach Russland lernte er 1932 den Filmregisseur Sergei Eisenstein kennen, was ihn dazu bewegte, sich mit dem Film zu befassen. Heiniger arbeitete 1937 am Schweizer Pavillon der Weltausstellung in Paris mit und realisierte verschiedene Gestaltungsprojekte für die Landesausstellung 1939. Er veröffentlichte mehrere Fotobücher, darunter 1935 «Puzsta Pferde», «Tessin» (1941), Viertausender (1942), «Das Buch vom Telefon» (Auftrag 1943) und «Masterpieces of Photography» (1952). Er realisierte von 1943 bis 1950 grafische Gestaltungen, Fotoprojekte und Filme für die Telefonförderung der PTT. Heiniger lernte auf der «Weltausstellung für Fotografie» 1952 in Luzern Walt Disney kennen und war danach 1953 bis 1957 vorwiegend in den USA tätig. Heiniger befasste sich mit dem Cinemascope-Verfahren und realisierte für die SBB den 360°-Circarama-Film «Rund um Rad und Schiene», der auf der Expo ’64 zu einem grossen Erfolg wurde. 1986 übersiedelte Heiniger definitiv nach Los Angeles, wo er 1993 verstarb.

 

Die Autorin

Katharina Rippstein (*1971) ist Fotografin und Fotohistorikerin. Seit 2016 leitet sie das Bildarchiv der Fotostiftung Schweiz und befasst sich mit Fragen der mediengerechten Digitalisierung von fotografischen Dokumenten. Im Rahmen eines Pilotprojekts zur Aufarbeitung von analogen Archivbeständen hat sie den Nachlass Ernst A. Heinigers umfassend ausgewertet, dokumentiert, digitalisiert und erforscht. Sie kuratierte die Ausstellung über Ernst A. Heiniger in Zusammenarbeit mit Teresa Gruber, Koordinatorin der Sammlung und Kuratorin der Fotostiftung Schweiz.

 

Bibliografie

«Good Morning, World!»
Fotografien und Filme von Ernst A. Heiniger
Von Engwang im Thurgau nach Hollywood: Fotograf und Kurzfilmpionier Ernst A. Heiniger

256 Seiten, 202 farbige und 112 sw Abbildungen
Leineneinband, gebunden, Format 23 x 29 cm
1. Auflage, 2021
Herausgegeben von Katharina Rippstein, Fotostiftung Schweiz
Mit Texten von Peter Pfrunder, Katharina Rippstein, Patricia Banzer und Muriel Willi
Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich
Preis: CHF 49.00 | EUR 48.00
ISBN 978-3-03942-006-3

Das Buch kann in Buchhandel bezogen, beim Verlag direkt bestellt oder im Ausland hier geordert werden.

Lesen Sie auch:
Unsere Top Story zur Ausstellung «Ernst A. Heiniger – Good Morning, World!».
Die Ausstellung ist noch bis 10. Oktober 2021 in der Fotostiftung Schweiz in Winterthur zu sehen.

 

 

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